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Mortlock

Mortlock

Titel: Mortlock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Mayhew
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Josie aufzustehen. Ihr ganzer Körper schmerzte, und ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich aus dem engen Verband platzen. Missmutig starrte sie den Raben an, der sein Gefieder aufschüttelte und mit der Spitze seines riesigen Schnabels über die Scheibe fuhr. Er hatte Arabella nervös gemacht. Sie wünschte, sie hätte etwas zum Werfen.
    »Alles zu seiner Zeit. Sieh nur, jetzt hast du den Rest von deiner Suppe verschüttet«, sagte Arabella streng und nahm ihr den Teller weg. Dann drückte sie Josie sanft, aber bestimmt zurück in die Kissen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, fühlte Josie sich zu schwach, um sich zu wehren. »Bald wird es dunkel, und dein Bruder braucht auch seine Ruhe. Er hat eine schlimme Wunde im Gesicht. Du darfst ihn jetzt nicht stören.«
    Arabella eilte mit dem Tablett hinaus, und das Klacken eines Riegels verriet Josie, dass sie eingesperrt war. Vor lauter Erschöpfung fielen ihr die Augen zu, doch ein stechender Schmerz machte sie wieder hellwach. Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite und versuchte, eine bequeme Position zu finden. Ihre Gedanken ließen sie ebenfalls nicht zur Ruhe kommen. Cardamom hatte ihr aufgetragen, die Amarant zu finden. Hatte er sie versteckt? Sie zermarterte sich das Hirn, welche Orte dafür in Frage kommen könnten. Wie geheimnisvoll er gewesen war! Er hatte ihr so gut wie nichts von seiner Vergangenheit erzählt. Ihr Leben hatte sich im Theater und in der Bluebell Terrace abgespielt. Und was war mit Mortlock? War er jetzt irgendwo da draußen, auf der Suche nach der Amarant, genau wie die grässlichen Ghule? Wenn er schon seit Jahren verschwunden war, wieso spürte sie seine Gegenwart in jedem dunklen Schatten? Warum tauchte sein Name immer wieder auf?
    Die Zeit zog sich dahin. Schatten krochen über die Wände und tauchten das Zimmer in Dunkelheit. Josie starrte immer noch gedankenverloren aus dem Fenster, als Arabella mit einer brennenden Petroleumlampe zurückkam. In der Ferne war ein schwacher Lichtschein zu erkennen, ein heller Punkt am Horizont. Josie musste die Augen zusammenkneifen, um sicherzugehen, dass es nicht der Widerschein der Lampe war.
    »Ist das da hinten ein anderes Haus?«, fragte sie und berührte Arabella am Arm. Das Mädchen folgte ihrem Blick und schnappte leise nach Luft.
    »Ach, das«, sagte sie mit einem gezwungenen Lachen. »Nein, wahrscheinlich ist es nur der Wildhüter, der ein paar Wilderer jagt …«
    »Du hast doch gesagt, Corvis hätte den Wildhüter entlassen«, entgegnete Josie misstrauisch.
    »Habe ich das?« Arabella stieß ein albernes Kichern aus und eilte zum Fenster. »Vielleicht ist es auch ein Boot draußen auf See. Das kann alles Mögliche sein. Jetzt schlaf erst mal. Ich ziehe die Vorhänge zu, es ist kalt da draußen.«
    Und damit verschwand sie. Josie drehte die Lampe herunter, blieb aber noch eine Weile wach und dachte über das seltsame Licht in der Dunkelheit nach. Wenn es kein anderes Haus war, was war es dann? Und warum war Arabella so nervös geworden, als sie danach gefragt hatte? Wenn sie doch nur mit Alfie reden könnte. Zitternd zog sie die Decken um sich und fragte sich, was die Nacht wohl noch bringen würde.



»Was hinterlässt du der Schwester Anne,
    Was hinterlässt du ihr?«
    »Den Seidenschal und den goldenen Fächer,
    Die hinterlass ich ihr.«
    »Was hinterlässt du der Schwester Grace,
    Was hinterlässt du ihr?«
    »Das blutige Kleid zum Waschen und Anziehn,
    Das hinterlass ich ihr.«
    »Was hinterlässt du dem Bruder John,
    Was hinterlässt du ihm?«
    »Den Galgen, dass er daran hängen soll,
    Den hinterlass ich ihm.«
    Der grausame Bruder
(The Cruel Brother)
,
altes Volkslied

16. KAPITEL

Lord Corvis
    Josies Nacht war alles andere als erholsam. Ihre Lampe fing an zu zischen und erlosch. Sie lag in völliger Finsternis da und bei jedem Rascheln und Scharren zuckte sie zusammen. Dielen knarzten, der Wind heulte über das Marschland und rüttelte an ihrem Fenster. Josie war an die Geräusche der Stadt gewöhnt: Kutschen, die über das Kopfsteinpflaster rollten, Straßenhändler, die lautstark ihre Waren feilboten. Die Geräusche hier waren ihr fremd.
    Begleitet vom Gekecker der Elstern und Krähen kam schließlich die trübe Morgendämmerung. Mühsam stand Josie auf, zog die Vorhänge beiseite und blickte hinaus auf die flache, trostlose Landschaft, in der nur ein paar verkrüppelte Bäume, eine halb verfallene Windmühle und ein Galgen, der schwarz und drohend aufragte,

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