Mortlock
aufs Kissen.
»Keine Sorge. Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte Arabella und deckte sie wieder zu. »Das hier ist Rookery Heights. Ich nehme an, Alfie ist der Junge, der bei dir war. Er ist ein paar Zimmer weiter untergebracht. Du kannst bald zu ihm, aber gedulde dich noch ein bisschen. Du hast eine schlimme Kopfwunde und jede Menge Blutergüsse. Ich hole dir einen Teller Suppe.«
Arabella ging hinaus. Josie versuchte erneut, sich aufzusetzen,doch sie sank wieder in sich zusammen. Alfie war also ebenfalls in Sicherheit. Aber Gimlet? Sie verbarg das Gesicht in ihren zitternden Händen und weinte. Gimlet war ihre einzige Verbindung zu Cardamom. Abgesehen von Alfie war er alles, was sie noch hatte. Ihn auch noch zu verlieren, war mehr, als sie ertragen konnte.
Als sie den Kopf wieder hob, stand Arabella neben dem Bett, ein Tablett mit einem Teller dampfender Suppe und ein paar Brotstücken in den Händen.
»Jetzt iss erst mal was, damit du wieder zu Kräften kommst«, sagte sie mit einem Lächeln. Sie wartete, bis Josie sich mühsam aufgesetzt und die Tränen weggewischt hatte, dann stellte sie ihr das Tablett auf den Schoß.
»Wie bin ich hierhergekommen?«, fragte Josie und pustete, um die Suppe ein wenig abzukühlen. Bei dem Duft nach Huhn und Gemüse lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Wie lange war es her, seit sie etwas gegessen hatte? Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so hungrig war. Gimlet hatte jetzt keinen Hunger mehr.
»Die Damen des Hauses haben euch gefunden, als sie von London zurückkamen«, sagte Arabella und blickte nach draußen, wo es allmählich dunkel wurde. »Eure Kutsche war in den Graben gestürzt, und erst dachten sie, ihr wärt tot. Du warst den ganzen Tag bewusstlos – jetzt ist schon fast wieder Abend.«
Josie schlürfte die Suppe. Sie konnte sich denken, wer die Damen des Hauses waren. Am liebsten wäre sie sofort geflohen, doch sie zwang sich zur Ruhe. Wenn sie eine Chance haben wollte, dass die Flucht gelang, musste sie so viel wie möglich herausfinden. Arabella hatte Recht: Das Wichtigste war erst mal, dass sie wieder zu Kräften kam.
»Wem gehört denn Rookery Heights?«, fragte sie zwischen zwei Löffeln Suppe.
»Lord Corvis.« Arabella senkte die Stimme. »Dem neuen Lord, dem Sohn. Er hat den Titel erst vor kurzem übernommen …«
»Und du arbeitest für ihn?«
»Meine Familie arbeitet schon seit vielen Jahren auf diesem Anwesen, aber …« Arabella brach ab und blickte verstohlen zur Tür.
»Aber was?« Josie beugte sich ein Stück vor, was jedoch recht schmerzhaft war.
»In letzter Zeit hat sich einiges verändert.« Arabellas Stimme war nur noch ein Flüstern. »Seit die Damen gekommen sind und der junge Lord das Haus übernommen hat. Ich meine, so richtig gut war es nie, der alte Lord war immer streng und kalt, aber zumindest war er gerecht. Jetzt sind die Mieten erhöht worden, unsere Häuser werden nicht mehr repariert, und dann die Krähen –«
»Krähen?«
»Überall.« Arabella verzog angewidert das Gesicht. »Hunderte. Machen die Ernte kaputt und stehlen uns die Aale. Letzte Woche musste Mrs Sullivan unten im Dorf sogar eine von der Wiege ihres Jüngsten verscheuchen. Weiß der Himmel, was passiert wäre, wenn sie das Weinen nicht gehört hätte.«
»Wo kommen die denn her?«, fragte Josie, obwohl sie es sich schon denken konnte. Sie hatte gesehen, wie die Tanten die Krähen anzogen und sie für ihre üblen Machenschaften benutzten.
»Krähen hat’s hier in Rookery Heights schon immer gegeben. Daher hat das Anwesen seinen Namen, so heißt eszumindest«, sagte Arabella. »Aber nie so viele, und Lord Corvis hat alles noch schlimmer gemacht, er hat nämlich den Wildhüter entlassen, weil der ein paar von ihnen erschossen hat. Und das ist noch nicht alles …«
»Was meinst du damit?«, fragte Josie. Ihre Suppe war vergessen, so gebannt lauschte sie dem Mädchen. Doch dann nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und blickte zum Fenster. Draußen auf dem Sims hockte ein riesiger Rabe. Sein Gefieder schillerte blau und grün, wie ein Ölfleck auf dem Wasser, und er hatte einen langen, dolchartigen Schnabel.
Arabella hatte ihn ebenfalls bemerkt. »Ach herrje, jetzt jage ich dir auch noch Angst ein mit meinem Geplapper«, sagte sie mit übertrieben munterer Stimme. »Hör gar nicht auf mich. Ich rede bloß dummes Zeug. Iss deine Suppe auf und ruh dich aus …«
»Aber ich will zu meinem Bruder. Ich will zu Alfie.« Stöhnend versuchte
Weitere Kostenlose Bücher