Morton, Kate
nicht kommen, er
befand sich mit seinem Regiment zur Ausbildung im Norden und schrieb gut
gelaunte Briefe über Butter und Sahne und ein Mädchen namens Kitty. Es würde
wie immer ausgelassen zugehen, so wie seit Kriegsbeginn üblich: Keiner würde
Fragen stellen, keiner würde sich beklagen oder sich höchstens auf scherzhafte
Weise darüber beschweren, wie kompliziert es war, Eier und Zucker zu
beschaffen. Niemand würde bezweifeln, dass England es mit den Deutschen
aufnehmen konnte. Dass sie durchhalten würden. Tom konnte sich vage daran
erinnern, dass er auch einmal so gefühlt hatte.
Juniper
nahm den Zettel aus der Tasche und las noch einmal die Adresse. Drehte und
wendete ihn und verfluchte sich selbst für ihre unleserliche Schrift. Sie
schrieb zu hastig, zu unüberlegt, war, wenn sie etwas schrieb, in Gedanken
schon bei der nächsten Idee. Sie schaute an dem schmalen Haus hoch, entdeckte
die Nummer auf der schwarzen Haustür. Sechsundzwanzig. Es war das richtige
Haus. Es musste es sein.
Entschlossen
stopfte Juniper den Zettel wieder in ihre Tasche. Abgesehen von der Hausnummer
und dem Straßennamen erkannte sie das Haus aus Merrys anschaulichen Beschreibungen
so genau, wie sie die Abtei von Northanger oder den Gutshof Wuthering Heights
erkennen würde. Leichtfüßig stieg sie die Stufen hoch und klopfte an.
Sie war
seit genau zwei Tagen in London und konnte es immer noch nicht glauben. Sie
kam sich vor wie eine Romanfigur, die ihr Buch verlassen hatte, die Geschichte,
die ein Autor liebevoll für sie ersonnen hatte, als hätte sie sich mit einer
Schere ausgeschnitten und wäre in die unvertrauten Seiten einer anderen
Geschichte gesprungen, wo es viel schmutziger und lauter zuging, einer
Geschichte mit einem ganz anderen Rhythmus. Aber die Geschichte gefiel ihr
bereits: das Gedränge, das Durcheinander, die Dinge und Menschen, die sie nicht
verstand. Es war genauso aufregend, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.
Die Tür
öffnete sich, und ein mürrisches Gesicht riss sie aus ihren Gedanken. Eine
junge Frau, jünger als sie, aber zugleich auch irgendwie älter. »Was wollen
Sie?«
»Ich
möchte zu Meredith Baker.« Junipers Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren,
hier in dieser anderen Geschichte. Plötzlich sah sie ein Bild vor sich, Percy,
die immer genau wusste, wie sie sich in der Welt draußen zu verhalten hatte.
Dann schob sich ein anderes Bild darüber, Percy, rot im Gesicht, nach einem
Streit mit ihrem Vater, und Juniper ließ es wie Sand zu Boden rieseln.
Die junge
Frau mit den widerwillig geschürzten Lippen, bei der es sich nur um Rita
handeln konnte, musterte sie von oben bis unten und betrachtete sie argwöhnisch
und seltsamerweise, wo sie sich doch noch nie begegnet waren, voller Abneigung.
»Meredith!«, rief sie schließlich. »Komm an die Tür!«
Juniper
und Rita beäugten einander wortlos, während sie warteten. Alle möglichen Wörter
sammelten sich in Junipers Kopf und verbanden sich zu einer Beschreibung, die
sie später benutzen würde, wenn sie ihren Schwestern schrieb. Dann kam Meredith
angelaufen, die Brille auf der Nase und einen Lappen in der Hand, und
plötzlich spielten die Worte keine Rolle mehr.
Merry war
die erste Freundin, die Juniper je gehabt hatte, zum ersten Mal hatte sie
erlebt, dass ihr jemand fehlte, und es hatte sie überrascht, wie sehr sie
gelitten hatte. Als Merrys Vater unangekündigt in Milderhurst aufgetaucht war,
um seine Tochter abzuholen, hatten die beiden Freundinnen einander in den
Armen gelegen, und Juniper hatte Merry ins Ohr geflüstert: »Ich komme nach
London. Wir sehen uns bald wieder.« Merry hatte geweint, aber Juniper nicht,
jedenfalls nicht beim Abschied. Sie hatte gewinkt und war in ihr Dachzimmer
hochgestiegen und hatte versucht sich zu erinnern, wie es war, allein zu sein.
Sie war ihr Leben lang allein gewesen, aber in der Stille, die Merry
zurückgelassen hatte, war etwas Neues zu hören. Eine Uhr, die leise tickte und
die Sekunden bis zum Eintreffen eines Schicksals zählte, dem Juniper unbedingt
entkommen wollte.
»Du bist gekommen!«, rief Meredith
und schob sich blinzelnd die Brille hoch, als befürchte sie, nicht richtig zu
sehen. »Ich hab's dir doch versprochen.« »Wo wohnst du?« »Bei meinem
Patenonkel.«
Merediths
Miene hellte sich auf. »Lass uns rausgehen!«, sagte sie lachend und nahm
Juniper an der Hand.
»Ich sag
Mum, dass du das Geschirr nicht zu Ende gespült hast!«, rief die Schwester
ihnen
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