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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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hinterher.
    »Lass sie
nur reden«, sagte Meredith. »Sie ist sauer, weil der Friseur, bei dem sie
arbeitet, sie nicht aus der Besenkammer rauslässt.«
    »Jammerschade,
dass er sie nicht eingesperrt hat.«
     
    Am Ende
war Juniper Blythe auf eigene Faust nach London gefahren. Mit dem Zug, wie
Meredith es ihr vorgeschlagen hatte, als sie zusammen auf dem Dach von Schloss
Milderhurst gesessen hatten. Ihren Schwestern zu entwischen war viel einfacher
gewesen, als sie erwartet hatte. Sie war einfach über die Wiesen und Felder
gelaufen und war erst stehen geblieben, als sie den Bahnhof erreichte.
    Vor lauter
Begeisterung darüber, es bis hierher geschafft zu haben, hatte sie einen Moment
lang ganz vergessen, dass sie jetzt den nächsten Schritt tun musste. Juniper
konnte schreiben, sie konnte sich großartige Geschichten ausdenken, konnte aus
Wörtern und Sätzen ganz eigene Welten entwerfen, aber in allen anderen Dingen
war sie ein hoffnungsloser Fall. Alles, was sie über die wirkliche Welt und
ihre Gesetze wusste, hatte sie sich aus Büchern zusammengereimt, aus den
Gesprächen ihrer Schwestern - die auch nicht gerade weltgewandt waren - und aus
dem, was Merry ihr von London erzählt hatte. So war es also kein Wunder, dass
sie, als sie vor dem Bahnhof stand, keine Ahnung hatte, was sie als Nächstes
tun sollte. Erst als sie die kleine Bude mit dem Schild »Fahrkarten« entdeckte,
hatte sie sich daran erinnert, dass sie sich natürlich eine Fahrkarte kaufen
musste.
    Geld war
etwas, das Juniper nie gekannt oder gebraucht hatte, aber nach dem Tod ihres
Vaters war ein kleiner Betrag aufgetaucht. Für die Einzelheiten des Testaments
hatte sie sich nicht interessiert - es reichte ihr zu wissen, dass Percy wütend
war, Saffy beunruhigt und sie, Juniper, der ahnungslose Grund für all den
Verdruss -, aber als Saffy ein Bündel richtiges Geld erwähnte, Banknoten, die
man anfassen und zusammenfalten und gegen Dinge eintauschen konnte, und
vorgeschlagen hatte, sie an einem sicheren Ort zu verwahren, hatte Juniper
Nein gesagt und erklärt, sie würde sie gern behalten, um sie sich hin und
wieder anzusehen. Saffy, die liebe, nachgiebige Saffy hatte die Bitte ohne mit
der Wimper zu zucken akzeptiert, weil sie von Juniper gekommen war, die sie
liebte, und deshalb hatte sie keine Fragen gestellt.
    Der Zug
war voll besetzt gewesen, aber ein älterer Herr im Abteil war aufgestanden und
hatte sich an den Hut getippt, und Juniper hatte verstanden, dass er ihr seinen
Platz anbot. Einen Fensterplatz. Wie charmant die Leute waren! Sie hatte
gelächelt, und er hatte genickt, und sie hatte mit ihrem Koffer auf dem Schoß
Platz genommen und abgewartet, was als Nächstes passieren würde. »Ist Ihre
Reise wirklich notwendig?«,
stand auf einem Schild am Bahnsteig. Ja, dachte
Juniper, ja, das ist sie. Im Schloss
zu bleiben, davon war sie mehr denn je überzeugt, würde bedeuten, dass sie sich
in ein Schicksal fügte, das sie unmöglich akzeptieren konnte. Wie dieses
Schicksal aussah, das hatte sie in den Augen ihres Vaters gesehen, als er sie
an den Schultern gepackt und gesagt hatte, sie wären aus demselben Holz.
    Dampf
wirbelte und waberte über den Bahnsteig, und sie war so aufgeregt, als wäre sie
auf den Rücken eines riesigen, fauchenden Drachen geklettert, der gleich
losfliegen und sie an einen märchenhaften Ort bringen würde. Ein schrilles
Pfeifen ertönte, das Juniper die Haare zu Berge stehen ließ, und dann setzte
der Zug sich schnaufend und schwankend in Bewegung. Juniper drückte die Nase
ans Fenster. Unwillkürlich musste sie lachen, vor Freude darüber, dass sie es
getan hatte. Sie hatte es wirklich getan.
    Mit der
Zeit beschlug die Scheibe durch ihren Atem, und namenlose Bahnhöfe, Felder,
Dörfer und Wälder flogen vorbei, verschwommene Grün- und Blau- und Rosatöne,
wie von einem Künstler mit wässrigem Pinsel verwischt. Hin und wieder liefen
die Farben zu einem Bild zusammen, eingerahmt vom Viereck des Fensters. Wie ein
Gemälde von Constable oder von einem der anderen Maler, die ihr Vater bewunderte.
Zeitlose Landschaftsdarstellungen, von denen er mit der vertrauten Traurigkeit
in den Augen zu schwärmen pflegte.
    Juniper
hatte nichts übrig für das Zeitlose. Sie wusste, dass so etwas nicht
existierte. Es gab nur das Hier und Jetzt und ihr Herzklopfen. Es klopfte
schnell, aber nicht zu schnell, denn sie saß in einem Zug nach London, umgeben
von Lärm und Bewegung und Hitze.
    London.
Juniper sprach das Wort ganz leise

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