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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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einer Erregung, die das Streichholz in ihrer Hand
erzittern ließ, »besichtigen Sie den Turm, verschaffen Sie sich einen Eindruck
von der Arbeitsweise unseres Vaters ...«
    Ich
nickte. Mir war, als hätte ich eine Bleikugel verschluckt.
    »Falls Sie
noch irgendwelche Fragen haben, wenden Sie sich an mich und nicht an meine
Schwestern.«
    Was Saffy
dazu veranlasste, auf ihre unnachahmliche Weise zu intervenieren. Sie hatte den
kleinen Schlagabtausch mit gesenktem Blick verfolgt, doch jetzt schaute sie
auf, ihr Gesichtsausdruck war freundlich und sanft, ihre Stimme klar, ihr Ton
vollkommen arglos. »Das bedeutet natürlich, dass sie sich Daddys Kladden
ansehen muss.«
    Kann es
sein, dass es plötzlich kühler im Raum wurde, oder schien es mir nur so? Niemand hatte Raymond Blythes Kladden jemals zu Gesicht bekommen,
weder zu seinen Lebzeiten noch im Laufe von fünfzig Jahren Forschung nach
seinem Tod. Mythen rankten sich um die Frage, ob sie überhaupt existierten.
Jetzt zu erleben, wie sie so beiläufig erwähnt wurden, die Chance zu wittern,
sie womöglich in Händen zu halten, die Handschrift des großen Mannes zu lesen,
mit den Fingerspitzen vorsichtig seinen Gedankengängen zu folgen ... »Ja«,
brachte ich kaum hörbar heraus. »Ja, bitte.«
    Percy hatte
sich Saffy zugewandt und bedachte sie mit einem vernichtenden Blick, und ich
begriff, dass Percy auf keinen Fall zulassen wollte, dass ich diese Kladden zu
sehen bekam. Ich hielt den Atem an, während die Zwillinge beredte Blicke austauschten.
    »Mach schon,
Percy«, sagte Saffy blinzelnd, und ihr Lächeln geriet ein bisschen in
Schieflage. Sie wirkte beinahe verblüfft, als könnte sie gar nicht verstehen,
dass sie Percy drängen musste. Sie warf mir einen verstohlenen Blick zu, kaum
merklich, aber er reichte aus, um mir zu sagen, dass wir Verbündete waren.
»Zeig ihr das Familienarchiv.«
    Das
Familienarchiv. Natürlich, dort mussten sie sein! Es war wie eine Szene aus dem Modermann: Raymond Blythes kostbare Kladden,
verborgen in einem Raum voller Geheimnisse.
    Percys
Lippen, ihr Brustkorb, ihr Kinn - alles erstarrte. Warum wollte sie nicht,
dass ich die Kladden zu sehen bekam? Enthielten sie Dinge, die ihr Angst
machten?
    »Percy?«
Saffy sprach mit ihr wie mit einem Kind, dem man gut zuredet, damit es sich
traut, den Mund aufzumachen. »Sind die Kladden immer noch im Archiv?«
    »Das nehme
ich an. Ich habe sie jedenfalls nicht herausgeholt.«
    »Also
dann?« Und als ihre Schwester nicht reagierte: »Percy?«
    »Heute
nicht mehr«, sagte Percy schließlich und drückte ihre Zigarette in einem
kleinen kristallenen Aschenbecher aus. »Es wird gleich dunkel. Es ist schon
fast Abend.«
    Ich
schaute zum Fenster und sah, dass sie recht hatte. Die Sonne war untergegangen,
ohne dass ich es bemerkt hatte. »Wenn Sie morgen wiederkommen, zeige ich Ihnen
das Archiv.« Ihr Blick schien mich zu durchbohren. »Und, Miss Burchill?«
    »Ja?«
    »Kein Wort
mehr über Juniper und ihn.«
     
    1
     
    London, 22. Juni 1941
     
    Es war
eine kleine Wohnung, nur zwei winzige Zimmer unterm Dach eines viktorianischen
Hauses. Die Zimmerdecke fiel nach einer Seite hin schräg ab, bis sie auf die
Wand stieß, die jemand gezogen hatte, um aus der zugigen Mansarde zwei kleine
Zimmer zu machen, und es gab keine richtige Küche, nur ein Waschbecken an der
Wand und einen einflammigen Gaskocher. Es war eigentlich nicht Toms Wohnung,
er hatte keine eigene, weil er nie eine gebraucht hatte. Bis der Krieg
ausbrach, hatte er bei seinen Eltern in Elephant and Castle gewohnt, und danach
war er mit seinem Regiment nach Frankreich gekommen, wo sie aufgerieben wurden
und sich schließlich bis zur Küste durchschlugen. Nach Dünkirchen hatte er in
einem Bett im Notlazarett in Chertsey geschlafen.
    Seit
seiner Entlassung aus der Armee hatte er mal hier, mal da gewohnt. Er pflegte
sein verwundetes Bein und wartete darauf, wieder an die Front beordert zu
werden. Überall in London standen Wohnungen leer, sodass es nie ein Problem
war, eine Bleibe zu finden. Der Krieg hatte alles durcheinandergewirbelt:
Menschen, Besitz, Freundschaften, und es gab keine eindeutigen Regeln mehr für
richtiges Verhalten. Diese Wohnung, dieses schlichte Zimmer, das er bis zu
seinem Tod in Erinnerung behalten sollte, weil er hier die schönsten Stunden
seines Lebens verbringen würde, gehörte einem Freund, mit dem er zusammen
studiert hatte, vor langer Zeit, in einem anderen Leben.
    Es war
noch früh, aber Tom war schon bis

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