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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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zum Primrose Hill und zurück gelaufen. Er
schlief nicht gut. Nicht mehr, seit er sich während des Rückzugs aus Frankreich
bis an die belgische Küste durchgeschlagen hatte. Er wachte mit den Vögeln
auf, vor allem eine Spatzenfamilie weckte ihn, die sich auf seinem Fenstersims
eingerichtet hatte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie zu füttern, aber
das Brot war sowieso schon schimmelig gewesen, und der Mann unten bei der
Lebensmittelausgabe hatte ihm eingeschärft, es nicht wegzuwerfen. Die Hitze
und der Dampf, wenn er Wasser kochte, ließen sein Brot schnell verschimmeln. Er
ließ das Fenster immer offen, aber die Tageshitze, die sich in den unteren
Wohnungen staute, drückte durch das Treppenhaus nach oben, drang durch die
Bodendielen und verbündete sich unter der Zimmerdecke mit der Feuchtigkeit.
Was blieb ihm anderes übrig, als sich damit abzufinden: Der Schimmel gehörte
zu ihm wie die Spatzen. Er wachte früh auf, er fütterte sie, er ging spazieren.
    Die Ärzte
hatten ihm gesagt, spazieren gehen sei das Beste für sein Bein, aber Tom hätte
sowieso nichts anderes getan. Eine Rastlosigkeit hatte ihn ergriffen, seit er
in Frankreich gewesen war, und die trieb ihn jeden Tag nach draußen. Jeder
Schritt auf dem Asphalt half ein bisschen, und er war froh über die
Erleichterung, auch wenn er wusste, dass sie nicht lange anhalten würde. Als
er am Morgen oben auf dem Primrose Hill gestanden und beobachtet hatte, wie die
Dämmerung die Ärmel aufkrempelte, hatte er den Zoo und das BBC-Gebäude gesehen
und in der Ferne die Kuppel der St.-Paul's-Kathedrale, die sich über der
zerbombten Stadt erhob. Während der schlimmsten Bombenangriffe hatte Tom im
Krankenhaus gelegen, und am dreißigsten Dezember war die Oberschwester mit der Times zu ihm gekommen (inzwischen hatte er die Erlaubnis,
Zeitung zu lesen). Sie war mürrisch, aber nicht unfreundlich an seinem Bett
stehen geblieben, und noch ehe er die Schlagzeile zu Ende gelesen hatte, hatte
sie es als Gotteswerk bezeichnet. Tom kam es zwar ebenfalls wie ein Wunder vor,
dass die Kathedrale noch stand, aber seiner Meinung nach hatte es eher etwas
mit Glück zu tun als mit Gott. Er hatte seine Probleme mit Gott, mit der
Vorstellung, dass ein göttliches Wesen beschließen sollte, ein Gebäude zu
verschonen, während halb England verblutete. Der Oberschwester jedoch hatte er
mit einem Nicken zugestimmt: Wenn er sich dem Verdacht der Blasphemie
ausgesetzt hätte, wäre sie nur zu seinem Arzt gerannt, um ihm ihre Besorgnis
über seinen Geisteszustand ins Ohr zu flüstern.
     
    Auf dem
schmalen Fenstersims stand ein kleiner Spiegel. Tom, bekleidet mit Unterhemd
und Hose, beugte sich vor und rieb sich mit dem letzten Stück Rasierseife, das
ihm geblieben war, über die Wangen. Gleichgültig betrachtete er sein scheckiges
Spiegelbild in dem marmorierten Spiegel, den jungen Mann, der den Kopf schief
legte, damit das milchige Sonnenlicht auf seine Wange fiel, das Rasiermesser
vorsichtig Strich um Strich über sein Kinn führte, zusammenzuckte, als er
seinem Ohrläppchen zu nahe kam. Der Mann im Spiegel wusch das Messer in der
flachen Wasserschüssel aus, schüttelte es kurz und begann mit der anderen
Seite, als würde er sich fein machen, um seiner Mutter einen Geburtstagsbesuch
abzustatten ...
    Tom riss
sich aus seinen Gedanken und seufzte. Er deponierte das Rasiermesser
sorgfältig auf dem Fensterbrett und legte die Hände auf den Schüsselrand.
Drückte die Augen fest zu und zählte bis zehn. Das passierte ihm häufig in
letzter Zeit, seit seiner Rückkehr aus Frankreich, vor allem seit seiner Entlassung
aus dem Lazarett. Es war jedes Mal, als befände er sich außerhalb seines
Körpers, ein Beobachter, unfähig zu glauben, dass der junge Mann im Spiegel mit
dem liebenswürdigen Gesicht und dem freundlichen Blick, der gerade seinen Tag
begann, er war, Thomas Cavill. Dass die Erfahrungen der vergangenen
anderthalb Jahre, das Gesehene und das Gehörte - das Kind, großer Gott, das tot
und allein auf der Straße in Frankreich gelegen hatte — hinter diesem immer
noch jugendlich glatten Gesicht existieren konnten.
    Du bist Thomas Cavill, sagte er sich mit Nachdruck, als
er bei zehn ankam, du bist
vierundzwanzig Jahre alt, du bist Soldat. Heute hat deine Mutter Geburtstag,
und du wirst sie zum Mittagessen besuchen. Seine
Schwestern würden auch dort sein, die älteste mit ihrem kleinen Sohn Thomas —
nach ihm benannt — und auch sein Bruder Joey. Aber Theo würde

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