Morton, Kate
seufzte. »Die
arme, arme Stadt.
Schrecklich,
was geschehen ist. Ihre Familie ist doch hoffentlich nicht zu Schaden
gekommen?«
»Wir haben
Glück gehabt. Bisher zumindest.«
»Sind Sie
schon lange unterwegs?«
»Ich habe
den Zug um neun Uhr genommen. Seitdem jagt ein Missgeschick das andere.«
Sie
schüttelte den Kopf. »Die Züge stehen mehr, als dass sie fahren, und überfüllt
sind sie obendrein. Und dann die Personenkontrollen ... aber jetzt sind Sie ja
fast am Ziel. Nur mit dem Wetter haben Sie Pech gehabt. Ich hoffe, Sie haben
einen Regenschirm dabei.«
Hatte er
zwar nicht, aber er nickte lächelnd und vertiefte sich wieder in seine
Gedanken.
Saffy ging
mit ihrem Schreibzeug ins gute Zimmer. Nur hier hatten sie an diesem Abend das
Kaminfeuer angezündet, und irgendwie tat es ihr trotz aller Widrigkeiten gut,
sich in dem Zimmer aufzuhalten, das sie so hübsch hergerichtet hatte. Saffy
fühlte sich beim Schreiben nicht gern eingeengt, daher mied sie die Sessel und
setzte sich lieber an den Tisch. Sie räumte ein Gedeck zur Seite, darauf
bedacht, die drei anderen nicht durcheinanderzubringen.
Sie
schenkte sich noch einen Whisky ein, setzte sich hin und schlug ihr Heft dort
auf, wo sie zuletzt aufgehört hatte. Sie überflog die Seite, um sich wieder mit
Adeles tragischer Liebesgeschichte vertraut zu machen. Seufzend ließ sie sich
von der geheimen Welt ihres Buchs umfangen.
Ein
Donnerschlag ließ Saffy zusammenfahren und erinnerte sie daran, dass sie sich
vorgenommen hatte, die Szene umzuschreiben, in der William seine Verlobung mit
Adele löste.
Die gute,
arme Adele. Wie passend, dass ihre Welt während eines Gewitters zusammenbrach,
bei dem der Himmel selbst einzustürzen schien! So musste es sein. Alle
tragischen Momente des Lebens sollten von Urgewalten untermalt werden.
Als
Matthew seine Verlobung mit Saffy gelöst hatte, hätte es auch blitzen und
donnern müssen. Sie hatten in der Bibliothek auf dem Sofa neben der
Terrassentür gesessen, und die Sonne hatte ihnen auf den Bauch geschienen. Ein
Jahr war vergangen seit dem schrecklichen Abend in London, seit der Premiere in
dem finsteren Theater, seit das abscheuliche Geschöpf sich aus dem
Schlossgraben erhoben hatte und vor höllischen Qualen brüllend am Turm
hochgeklettert war ... Saffy hatte gerade Tee für zwei eingeschenkt, als
Matthew zu sprechen begann.
»Ich
glaube«, hatte er gesagt, »es wäre das Beste für uns beide, wenn wir einander
freigeben.«
»Einander
... freigeben? Aber ich verstehe nicht?« Sie blinzelte. »Liebst du mich denn
nicht mehr?«
»Ich werde
dich immer lieben, Saffy.«
»Aber ...
warum?« Sie hatte sich extra das saphirblaue Kleid angezogen, als sie erfahren
hatte, dass er kommen würde. Es war ihr bestes; es war das Kleid, das sie zur
Premiere getragen hatte. Er sollte sie bewundern, sie begehren, sie so sehr
wollen wie an jenem Tag am See. Sie kam sich lächerlich vor. »Warum?«, fragte
sie noch einmal und ärgerte sich darüber, dass sie so zaghaft klang.
»Wir
können nicht heiraten, das weißt du so gut wie ich. Wie sollen wir als Mann und
Frau leben, wenn du dich weigerst, diesen Ort zu verlassen?«
»Aber ich
weigere mich doch nicht, ich sehne mich
danach, von hier fortzugehen ...«
»Dann komm
mit mir, jetzt auf der Stelle ...«
»Ich kann
nicht ...« Sie stand auf. »Ich habe es dir erklärt.«
Sein
Gesicht veränderte sich, Verbitterung verzerrte seine Züge. »Natürlich kannst
du. Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du mit mir gehen. Dann würdest du
mit mir ins Auto steigen, und wir würden weit wegfahren von diesem schrecklichen,
vermoderten alten Kasten.« Er war aufgestanden. »Komm, Saffy«, flehte er sie
an, und jede Spur von Enttäuschung schien wie weggeblasen. Er zeigte mit seinem
Hut in die Richtung, wo der Wagen stand. »Lass uns gehen. Lass uns jetzt auf
der Stelle wegfahren, wir beide zusammen.«
Am
liebsten hätte sie noch einmal gesagt: »Ich kann nicht«, und ihn inständig
gebeten, sie doch zu verstehen, Geduld zu haben, auf sie zu warten; aber sie
schwieg. Ein lichter Moment, und sie hatte begriffen, dass es nichts gab, was
sie sagen oder tun konnte, um ihm ihre Situation begreiflich zu machen. Die
lähmende Panik, die sie allein bei dem Gedanken befiel, das Schloss zu
verlassen; die schwarze und bodenlose Angst, die sie in den Klauen hielt, ihr
die Lunge einschnürte und ihr das Atmen schwer machte, sodass sich alles zu
drehen begann; die sie an diesem kalten,
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