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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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Kleiderschrank war ihr ganzer Stolz, jedes Kleid
Mitglied eines verschworenen Zirkels. Der Schrank stellte einen Katalog ihrer
Vergangenheit dar, wie sie einmal in einem Moment rührseligen Selbstmitleids
gedacht hatte: die Kleider, die sie als Debütantin getragen hatte, das
Seidenkleid, das sie auf dem Mittsommerball in Milderhurst im Jahr 1923 angehabt hatte, selbst das blaue Kleid, das sie sich im
Jahr darauf für die Premiere von Vaters Stück genäht hatte. Ihr Vater war der
Meinung gewesen, dass Töchter schön zu sein hatten, und solange er lebte,
hatten sie sich immer zum Abendessen fein gemacht. Selbst dann noch, als er an
seinen Sessel im Turmzimmer gefesselt war, hatten sie sich bemüht, ihm zu gefallen.
Seit seinem Tod jedoch sahen sie keinen Sinn mehr darin, einen solchen Aufwand
zu betreiben. Eine Zeit lang hatte Saffy noch daran festgehalten, doch dann
hatte Percy sich zum Sanitätsdienst gemeldet, was bedeutete, dass sie häufig
nachts den Krankenwagen fahren musste, und sie waren wortlos übereingekommen,
die Tradition aufzugeben.
    Eins nach
dem anderen schob Saffy die Kleider hin und her, bis sie das aus minzgrüner
Seide entdeckte. Sie hielt die anderen zur Seite und bewunderte das glitzernde
Prachtstück: die mit Perlen bestickte Korsage, die breite Schärpe, den langen,
schmalen, zum Saum hin glockig ausschwingenden Rock. Sie hatte es seit Jahren
nicht mehr getragen, konnte sich kaum an das letzte Mal erinnern, aber sie
wusste noch, dass Lucy ihr geholfen hatte, es zu flicken. Es war Percys Schuld
gewesen; mit ihren Zigaretten und ihrer achtlosen Art, sie zu rauchen, war sie,
wo sie hinkam, eine Gefahr für alle feinen Stoffe. Aber Lucy hatte es sauber
hinbekommen, sodass Saffy Mühe hatte, die versengte Stelle an der Korsage
überhaupt zu finden. Ja, es war genau das Richtige für den Abend. Saffy nahm es
aus dem Schrank, legte es auf die Tagesdecke und nahm ihre Strümpfe.
    Es war ihr
ein Rätsel, dachte sie, während sie vorsichtig eine Hand in den ersten Strumpf
schob und ihn dann über ihre Zehen streifte, wie eine Frau wie Lucy sich in
den Uhrmacher Harry hatte verlieben können. So ein unscheinbarer, kleiner Mann,
der nichts von einem romantischen Helden hatte, der mit eingezogenen Schultern
über die Flure huschte, das Haar immer ein bisschen länger, ein bisschen
dünner, ein bisschen weniger gepflegt, als es angebracht wäre ...
    »O Gott,
nein!« Saffy blieb mit dem großen Zeh hängen und geriet aus dem Gleichgewicht.
Sie hätte sich vielleicht noch fangen können, aber ihr Zehennagel hatte sich im
Gewebe verfangen und drohte eine weitere Laufmasche zu reißen, wenn sie den
Fuß absetzte. So nahm sie den Sturz tapfer in Kauf und schlug sich den
Oberschenkel böse an ihrem Toilettentisch. »Oje!«, japste sie. »Oje, oje, oje.«
Sie setzte sich auf den gepolsterten Hocker und begutachtete den kostbaren
Strumpf. Ach, warum hatte sie sich nicht besser konzentriert? Wenn diese
Strümpfe nicht mehr zu retten waren, gab es keinen Ersatz. Mit zitternden
Fingern drehte sie den Strumpf in alle Richtungen und befühlte das hauchzarte
Gewebe vorsichtig mit den Fingerspitzen.
    Es schien
alles in Ordnung zu sein. Das war knapp gewesen. Saffy stieß einen Seufzer aus,
und doch war sie nicht völlig erleichtert. Sie betrachtete ihr rotwangiges
Gesicht im Spiegel: Es ging um mehr als das letzte Paar intakte Strümpfe. Als
Kinder hatten sie und Percy reichlich Gelegenheit gehabt, Erwachsene aus der
Nähe zu beobachten, und was sie gesehen hatten, hatte ihnen Rätsel aufgegeben.
Die wunderlichen Alten hatten sich sonderbarerweise aufgeführt, als wäre ihnen
nicht im Geringsten bewusst, dass sie alt waren. Das hatte die Zwillinge verblüfft,
die sich einig gewesen waren, dass es nichts Geschmackloseres gab als alte
Menschen, die sich weigerten, ihre Grenzen zu akzeptieren, und sie hatten
damals einen Pakt geschlossen, es bei sich selbst nie so weit kommen zu lassen.
Wenn sie einmal alt wären, würden sie sich voll und ganz damit abfinden. »Aber
woran sollen wir es erkennen?«, hatte Saffy verwirrt gefragt. »Vielleicht ist
es etwas, das man nicht spürt, bis es zu spät ist, so wie Sonnenbrand.« Percy
hatte ihr beigepflichtet, dass es sich um ein kniffliges Problem handelte,
hatte die Arme um die Knie geschlungen und darüber nachgegrübelt. Pragmatisch,
wie sie war, hatte sie jedoch als Erste eine Lösung gefunden: »Ich würde sagen,
wir müssen eine Liste von den Dingen aufstellen, die alte

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