Morton, Kate
Junipers Tagebucheintrag und das, was er
womöglich bedeutete, so beunruhigend.
Saffy ließ
die Strümpfe sinken. Sie war nicht naiv, und sie war auch nicht viktorianisch
prüde; sie hatte Third Act in Venice; Cold
Comfort Farm und The Thinking
Reed gelesen und wusste über Sexualität Bescheid. Aber nichts
von dem, was sie bisher gelesen hatte, hatte sie darauf vorbereiten können, was
Juniper über das Thema dachte. Sie schrieb freimütig, wie es ihre Art war,
intuitiv und poetisch, hinreißend und schonungslos und beängstigend. Saffys
Augen waren über die Seiten geflogen, hatten alles auf einmal aufgenommen, sie
hatte sich gefühlt, als hätte ihr jemand ein Glas Wasser ins Gesicht
geschüttet. Bei dem Tempo, mit dem sie gelesen hatte, bei der Verwirrung angesichts
so lebhaft beschriebener Empfindungen war es kein Wunder, dass sie keine
einzige Zeile hätte wiedergeben können, dachte Saffy. Sie erinnerte sich nur
bruchstückhaft an ihre Gefühle, an ungewollte Bilder, an den Schock, den das
Lesen verbotener Wörter in ihr ausgelöst hatte.
Vielleicht
waren es nicht einmal die Wörter selbst gewesen, die Saffy so verblüfft hatten,
sondern eher, wer sie geschrieben hatte. Juniper war nicht nur ihre wesentlich
jüngere Schwester, sondern auch eine junge Frau, die immer regelrecht geschlechtslos
gewirkt hatte. Ihre glühende Schreibleidenschaft, ihre Ablehnung jeglicher
weiblichen Attribute, ihre nachlässige Kleidung - all das schien Juniper über
solche niederen menschlichen Instinkte zu erheben. Mehr noch, und das war
vielleicht das, was Saffy den größten Stich versetzte, Juniper hatte nie auch
nur im Entferntesten angedeutet, dass es um eine Liebesaffäre ging. War der
junge Mann, der zum Abendessen erwartet wurde, derjenige welcher? Den
Tagebucheintrag hatte June vor einem halben Jahr geschrieben, bevor sie nach
London gegangen war, und doch hatte sie den Namen Thomas bereits darin
erwähnt. War es möglich, dass Juniper diesem Mann schon in Milderhurst begegnet
war? Dass ihre Reise nach London noch einen anderen als den offiziellen Grund
gehabt hatte? Und wenn ja, waren die beiden dann nach all der Zeit immer noch
ein Liebespaar? Was für eine unglaubliche und aufregende Entwicklung im Leben
ihrer kleinen Schwester, über die kein Wort gesprochen worden war. Saffy wusste
natürlich, warum das so war: Ihr Vater, wenn er noch lebte, wäre rasend vor
Zorn - Sex hatte allzu oft zur Folge, dass Kinder gezeugt wurden, und seine
Theorie von der Unvereinbarkeit von Kunst und Kindererziehung war kein
Geheimnis. Deshalb durfte Percy, Vaters selbst ernannte Sachwalterin, nichts
davon erfahren, das hatte Juniper richtig erkannt. Aber dass sie Saffy nicht
ins Vertrauen gezogen hatte ... Sie beide standen sich doch so nahe, und so verschlossen
Juniper auch sein mochte, so hatten sie doch immer miteinander reden können.
Dieses Thema sollte da eigentlich keine Ausnahme sein. Saffy streifte die
Strümpfe von ihrer Hand und nahm sich vor, die Sache zu klären, sobald Juniper
nach Hause kam und sie Gelegenheit fanden, ein paar Minuten ungestört zu sein.
Saffy lächelte. Bei dem Abendessen ging es nicht nur darum, Juniper wieder zu
Hause zu begrüßen und jemandem den Dank der Familie Blythe zu erweisen. Bei
dem Freund, den Juniper eingeladen hatte, handelte es sich um jemand ganz
Besonderen.
Nachdem
sie sich überzeugt hatte, dass die Strümpfe in Ordnung waren, legte Saffy sie
aufs Bett und nahm sich den Kleiderschrank vor. Herr im Himmel! Nur mit ihrer
Unterwäsche bekleidet, blieb sie vor dem Spiegel stehen, drehte sich in die
eine, dann in die andere Richtung und reckte den Hals, um sich von hinten zu
sehen. Entweder hatte der Spiegel sich verzogen, oder sie hatte ein paar Kilo
zugenommen. Also wirklich, sie sollte sich der Wissenschaft zur Verfügung
stellen. Zuzunehmen in Zeiten, wo die Speisekammern Englands so gut wie leer
waren? War das ausgesprochen unbritisch oder ein raffinierter Sieg über Hitlers
U-Boote? Es würde vielleicht nicht für den neuen »Churchill-Orden für die
Erhaltung von Englands Schönheit« reichen, aber dennoch war es ein Triumph.
Saffy schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse, zog den Bauch ein und öffnete
den Kleiderschrank.
Hinter
einigen langweiligen Trägerröcken und Strickjacken, die ganz vorne hingen, tat
sich ein Wunderland aus schimmernden, vernachlässigten Seidenkleidern auf.
Saffy schlug sich die Hände an die Wangen. Es war, als würde man alte
Freundinnen wiedersehen. Ihr
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