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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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sie zu tun hatte: Sie musste sich umziehen und nach unten gehen,
sie musste herausfinden, wie viel gutes Zureden Percy brauchen würde, und dann
musste sie dafür sorgen, dass der Abend ein voller Erfolg wurde. Und soeben
schlug die Standuhr sechs, sie musste sich also sputen. Juniper und der junge
Mann - dessen Name, da war sie sich ganz sicher, derselbe war wie der, den sie
eben in dem Tagebuch gelesen hatte - würden in einer Stunde eintreffen; die
Heftigkeit, mit der Percy die Tür zugeschlagen hatte, ließ darauf schließen,
dass sie ziemlich übellaunig war; und Saffy war immer noch so angezogen, als
hätte sie den ganzen Tag für den Sieg geschuftet.
    Der Haufen
geretteter Gläser und Geschirrteile war plötzlich vergessen. Saffy watete durch
das Papiermeer, um die restlichen Fenster zu schließen und die
Verdunkelungsvorhänge zuzuziehen. In der Einfahrt bewegte sich etwas - Lucy
überquerte gerade auf ihrem Fahrrad die erste Brücke -, aber Saffy schaute in
eine andere Richtung. Ein Vogelschwarm flog über den Hopfenfeldern auf, und
sie blickte den Vögeln nach. So frei wie ein Vogel, hieß es, dabei waren sie
gar nicht frei, jedenfalls nicht, soweit Saffy das beurteilen konnte: Sie
waren aneinandergekettet durch ihre Gewohnheiten, ihre Bedürfnisse, ihre
Biologie, ihre Natur, ihre Geburt. Sie waren nicht freier als andere Lebewesen.
Dennoch kannten sie das Hochgefühl des Fliegens. Was würde Saffy nicht dafür
geben, einmal die Flügel ausbreiten und fliegen zu können, vom Fenster über
die Wiesen und Wälder zu gleiten und den Flugzeugen nach London zu folgen.
    Einmal,
als kleines Mädchen, hatte sie es versucht. Sie war aus dem Dachzimmerfenster
gestiegen, hatte sich den Dachfirst entlanggehangelt und war auf den
Mauervorsprung unter Vaters Turm geklettert. Vorher hatte sie sich Flügel
gebastelt, prächtige Flügel aus Seide, die sie mit Bindfaden an dünne Zweige
gebunden hatte. Sie hatte sogar Schlaufen aus Gummiband angenäht, durch die
sie die Arme stecken konnte. Sie waren wunderschön gewesen — nicht rosa oder
rot, nein, zinnoberrot, und sie leuchteten in der Sonne wie die Federn von
echten Vögeln -, und nachdem sie abgesprungen war, war sie sogar ein paar
Sekunden lang geflogen. Der starke Wind, der vom Tal heraufwehte, hatte sie
kurz erfasst und ihr die Arme nach hinten gerissen, und einen herrlichen Moment
lang hatte sich alles verlangsamt, und sie hatte eine Ahnung davon bekommen,
wie himmlisch es war zu fliegen. Dann war plötzlich alles ganz schnell
gegangen, sie war abgestürzt, und als sie auf dem Boden aufschlug, hatte sie
sich die Flügel und die Arme gebrochen.
    »Saffy!«,
ertönte es wieder von unten. »Versteckst du dich etwa vor mir?«
    Die Vögel
verschwanden in den dichten Wolken, Saffy schloss das Fenster und zog die
Verdunkelungsvorhänge so dicht zu, dass kein bisschen Licht mehr nach außen
dringen konnte. Der Himmel grummelte wie ein voller Magen, wie der gefräßige
Bauch eines feinen Herrn, der sich nicht mit dem Mangel in einer rationierten
Vorratskammer begnügen musste. Saffy lächelte, das Bild gefiel ihr, und sie
nahm sich vor, es in ihrem Notizheft festzuhalten.
     
    Es war
still im Haus, sehr still. Viel zu still, dachte Percy und presste beunruhigt
die Lippen zusammen; Saffy hatte sich schon immer versteckt, wenn eine
Konfrontation ihr erbittertes Haupt erhob. Ihr Leben lang hatte Percy stets
die Gefechte ihrer Zwillingsschwester ausgefochten, darin war sie gut, es
machte ihr sogar Spaß, und es funktionierte hervorragend, außer wenn es
Streitigkeiten zwischen ihnen beiden gab und Saffy, die in diesen Dingen völlig
ungeübt war, den Kürzeren zog. Unfähig zu kämpfen, blieben ihr nur zwei
Möglichkeiten: Flucht oder Verleugnung. Nach der Totenstille zu urteilen, der
Percy jetzt auf der Suche nach ihrer Schwester begegnete, hatte Saffy sich
diesmal offenbar für Ersteres entschieden. Was frustrierend war, äußerst
frustrierend, denn in Percys Eingeweiden bildete sich bereits ein Knoten, der
nur darauf wartete zu platzen. Und da niemand in Reichweite war, den sie mit
bösen Blicken bedenken oder anknurren konnte, und da der Knoten sich nicht von
allein auflösen würde, musste sie sich auf andere Weise behelfen. Whisky wäre
eine Möglichkeit. Auf jeden Fall konnte ein ordentlicher Schluck nicht schaden.
    Draußen
war es längst dunkel, und im Schloss hätte Percy den Weg von der Eingangshalle
in den Flur zum gelben Salon nicht gefahrlos durchqueren können,

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