Morton, Kate
erzählte mir lustige
Geschichten aus der Zeit, als sie in meinem Alter gewesen war, und malte mir
ein lebhaftes Bild mit Farben und Gerüchen und Stimmen, die mir plötzlich etwas
klarmachten, was ich schon lange unterschwellig gewusst hatte. Das Haus, in dem
ich wohnte, die Familie, in der ich aufwuchs, war ein steriler, einsamer Ort.
Ich weiß noch, wie ich bei Rita auf der kleinen Gästematratze lag, während
meine vier Kusinen und Vettern um mich herum leise schnarchten und sich im
Schlaf bewegten, und ich mir wünschte, Rita wäre meine Mutter. Wie ich mir
wünschte, in einem warmen, unaufgeräumten Haus voller Geschwister und alter
Geschichten zu wohnen. Und ich erinnere mich auch an die Schuldgefühle, die
mich im selben Moment überkamen, wie ich die Augen fest zusammenkniff und mir
meinen treulosen Wunsch vorstellte wie ein Stück zerknüllte Seide, das ich
ausbreitete und vom Wind davontragen ließ, als hätte es nie existiert.
Aber der
Wunsch hatte existiert.
Wie auch
immer. Es war Anfang Juli, und an dem Tag, als ich zu der Verabredung mit Rita
ging, war es so heiß, dass man kaum Luft bekam. Ich klopfte an die Glastür und
erblickte mein müdes Gesicht in der Scheibe. Eins wurde mir sofort klar:
Sich ein
Sofa mit einem an Blähungen leidenden Hund zu teilen trägt nicht unbedingt zu
einem gesunden Teint bei. Ich lugte an dem »Geschlossen«-Schild vorbei und
entdeckte Tante Rita, die, eine Zigarette zwischen den Lippen, im Hinterzimmer
an einem Kartentisch saß und etwas Kleines, Weißes betrachtete, das sie in den
Händen hielt. Sie bedeutete mir einzutreten. »Edie, Liebes«, rief sie gegen
das Bimmeln der Türglocke und die Musik der Supremes an, »leih mir doch mal
deine Augen, Schätzchen.«
Tante
Ritas Salon zu betreten ist ein bisschen wie eine Reise in die Vergangenheit.
Die Bodenfliesen im Schachbrettmuster, die Kunstledersessel mit den giftgrünen
Kissen, die perlmutt-farbenen Trockenhauben an ausziehbaren Armen. An den
Wänden hinter Glas Poster von Marvin Gaye und Diana Ross und den Temptations.
Die immergleichen Gerüche nach Wasserstoffperoxid und dem Frittenfett von
nebenan, in einen ewigen Kampf um die Vorherrschaft verstrickt...
»Ich
versuche die ganze Zeit, das hier einzufädeln«, sagte Rita, ohne die Zigarette
aus dem Mund zu nehmen, »aber als wäre es nicht schlimm genug, dass meine Finger
immer steifer werden, will mir dieses verdammte Bändchen einfach nicht gehorchen.«
Sie hielt
mir das Ding hin, und bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass es sich um
einen kleinen Beutel aus weißer Spitze handelte, an dessen oberem Rand sich
Löcher für eine Zugschnur befanden.
»Das sind
Geschenke für Sams Freundinnen«, sagte Tante Rita mit einer Kinnbewegung zu
einem Karton zu ihren Füßen, in dem sich lauter solche Beutelchen befanden.
»Also, das werden sie sein, wenn sie fertig und mit Süßigkeiten gefüllt sind.«
Als sie mir den Beutel und das Bändchen gab, an denen sie sich abgemüht hatte,
fiel ihr die Asche von der Zigarette.
»Ich hab
Teewasser aufgesetzt, aber im Kühlschrank ist auch Limo, falls du lieber was
Kaltes möchtest.«
Allein bei
dem Gedanken bekam ich einen trockenen Hals. »Liebend gern.«
Eigentlich
assoziiert man das Wort nicht unbedingt mit der Schwester seiner Mutter, aber
es ist zutreffend, also benutze ich es: Meine Tante Rita ist sexy. Als ich ihr
zusah, wie sie zwei Gläser mit Limonade füllte, der enge Rock über dem runden
Hintern gespannt, ihre trotz vier Schwangerschaften vor über dreißig Jahren
immer noch schmale Taille, kamen mir die wenigen Anekdoten, die ich meiner
Mutter über die Jahre entlockt hatte, durchaus glaubhaft vor. Natürlich waren
sie ausnahmslos als abschreckendes Beispiel gedacht gewesen, für Dinge, die anständige
Mädchen nicht taten, allerdings hatten sie einen unbeabsichtigten Effekt
gehabt: Sie hatten in meiner Vorstellung die Legende von der bewundernswerten,
rebellischen Tante Rita geschaffen.
»Hier,
Liebes.« Sie reichte mir ein Martiniglas, in dem lauter Bläschen tanzten, ließ
sich mit einem Seufzer auf ihren Stuhl fallen und befühlte ihre Turmfrisur mit
allen zehn Fingern. »Puh«, sagte sie. »Was für ein Tag. Gott - du siehst so
müde aus, wie ich mich fühle.«
Ich trank
einen großen Schluck Limonade, und die Kohlensäure schien mir die Kehle zu
verätzen. Die Temptations stimmten gerade My Girl an. »Ich wusste gar nicht, dass du sonntags geöffnet
hast«, sagte ich.
»Hab ich
auch nicht,
Weitere Kostenlose Bücher