Morton, Kate
langsam ihren Rauch ausatmete, spiegelten sich nacheinander Entgeisterung,
Verblüffung und schließlich Resignation in ihrem Gesicht. »Tja, vielleicht habt
ihr ja recht. Das Leben geht einfach weiter, weißt du, ohne dass man es merkt.
Du lernst jemanden kennen, du fährst bei ihm im Auto mit, du heiratest ihn und
kriegst Kinder. Und dann, eines Tages, stellst du fest, dass euch nichts
verbindet. Du sagst dir, dass das früher mal anders war, es muss ja anders
gewesen sein - warum hättest du den Kerl sonst heiraten sollen? -, aber die
schlaflosen Nächte, die Enttäuschungen, die Sorge. Schockiert erkennst du, dass
du mehr Jahre hinter dir hast, als vor dir liegen. Na ja ...« Sie lächelte
mich an, als hätte sie mir gerade ein Backrezept verraten anstatt einen guten
Grund, den Kopf in den nächstbesten Gasofen zu stecken. »So ist das Leben,
nicht wahr?«
»Das ist
großartig, Tante Rita. Das solltest du unbedingt in deiner Hochzeitsrede
ansprechen.« »Ganz schön frech.«
Während
Tante Ritas aufmunternde Worte noch in dem verrauchten Zimmer hingen, nahmen
wir das nächste Beutelchen in Angriff. Der Plattenspieler lief, Rita summte
mit, als ein Mann uns mit samtener Stimme aufforderte, sein Lächeln anzusehen.
Und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. So gern ich Rita besuche, diesmal
war ich mit einem Hintergedanken gekommen. Meine Mutter und ich hatten seit dem
Nachmittag im Café kaum miteinander gesprochen. Ich hatte unsere nächste
Verabredung abgesagt, unter dem Vorwand, viel Arbeit im Verlag zu haben. Ich
ließ sogar den Anrufbeantworter an und nahm nicht ab, wenn ich hörte, dass
meine Mutter sich meldete. Ich fühlte mich einfach verletzt. Vielleicht war
das kindisch, aber ich glaube es nicht. Dass meine Mutter mir nie vertraute,
dass sie rundweg bestritt, mit mir an dem Schlosstor gestanden zu haben, dass
sie behauptete, ich hätte die ganze Geschichte erfunden, tat mir weh und
bestätigte mich nur in meinem Entschluss, die Wahrheit herauszufinden. Und
jetzt, wo ich mich schon wieder um unser sonntägliches Mittagessen gedrückt und
meine Mutter erneut vor den Kopf gestoßen hatte und in der Affenhitze quer
durch die Stadt gefahren war, wollte, konnte, durfte ich nicht unverrichteter
Dinge wieder abziehen. »Tante Rita?«, sagte ich.
»Hmm?« Sie
betrachtete stirnrunzelnd das Bändchen, das sich in ihren Fingern verheddert
hatte.
»Ich
wollte mit dir über etwas reden.«
»Hmm?«
Ȇber
Mum.«
Ein Blick,
so scharf, dass er kratzte. »Geht es ihr gut?«
»Ja, ja,
es geht ihr gut. Es ist nichts dergleichen. Ich hab einfach ein bisschen über
die Vergangenheit nachgedacht.«
»Ah. Das
ist natürlich was anderes, die Vergangenheit. Um welchen Teil der Vergangenheit
geht es denn?«
»Den
Krieg.«
Sie legte
das Beutelchen weg. »Na so was.«
Ich sah
mich vor. Tante Rita erzählt gern, aber ich wusste, dass es sich um ein heikles
Thema handelte. »Ihr wart doch evakuiert, du und Mum und Onkel Ed.«
»Stimmt.
Kurz. Das war grauenhaft. Das ganze Gerede von frischer Luft. Alles dummes
Zeug. Niemand erzählt dir von dem Gestank auf dem Land, von den Misthaufen an
jeder Ecke. Und zu uns haben sie gesagt, wir wären schmutzig! Seitdem sehe ich
Kühe und Menschen mit anderen Augen. Ich konnte es gar nicht erwarten, wieder
nach Hause zu kommen, Bomben hin oder her.«
»Und Mum?
Ging es der genauso?«
Ein
kurzer, argwöhnischer Blick. »Warum? Was hat sie dir erzählt?«
»Nichts.
Sie hat mir überhaupt nichts erzählt.«
Rita
richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das weiße Beutelchen, aber es lag
Befangenheit in ihrem nach unten gerichteten Blick. Ich konnte beinahe sehen,
wie sie sich auf die Zunge biss, um all die Dinge zurückzuhalten, die
heraussprudeln wollten, die sie aber vorsichtshalber für sich behielt.
Ich kam
mir vor wie eine Verräterin, aber die Gelegenheit war zu günstig. Jedes meiner
Worte versetzte mir einen kleinen Stich: »Du weißt ja, wie sie ist.«
Tante Rita
schniefte und witterte meine Einschmeichelei. Sie schürzte die Lippen und
musterte mich einen Moment lang aus dem Augenwinkel. Dann neigte sie den Kopf
zu mir. »Deine Mutter fand es großartig. Die wollte gar nicht wieder nach
Hause.« In ihrem Blick lag so etwas wie Verunsicherung. Offenbar hatte ich
einen wunden Punkt berührt. »Welches Kind will nicht bei seinen Eltern, seiner
Familie sein? Welches Kind würde lieber bei anderen Leuten bleiben?«
Ein Kind,
das sich fehl am Platz fühlt, dachte ich und
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