Morton, Kate
ausgetrunken.«
Sie warf
einen Blick auf ihre Tasse, auf den kalten, grauen Schaum am Boden. »Den Rest
möchte ich nicht.«
»Ich
bestelle dir einen frischen, ich ...«
»Nein«,
sagte sie. »Wie viel schulde ich dir für den Cappuccino?«
»Nichts,
Mum. Bitte bleib noch.«
»Nein.«
Sie legte eine Fünfpfundnote neben meine Untertasse. »Ich bin jetzt schon den
ganzen Vormittag unterwegs, und dein Vater ist allein zu Hause. Du kennst ihn
ja: Wenn ich nicht bald zurückkomme, nimmt er noch das ganze Haus auseinander.«
Sie
drückte ihre feuchte Wange an meine, dann war sie verschwunden.
Ein Striplokal und Pandoras Büchse
A m Ende war es Tante Rita, die mich kontaktierte, und
nicht umgekehrt. Während ich im Dunkeln tappte und vergeblich versuchte
herauszufinden, was zwischen meiner Mutter und Juniper Blythe vorgefallen war,
beschloss Tante Rita, für meine Kusine Samantha eine Junggesellinnen-Abschiedsparty
zu organisieren. Ich wusste nicht, ob ich empört sein oder mich geschmeichelt
fühlen sollte, als sie mich im Verlag anrief und wissen wollte, ob ich ihr ein
exklusives Männer-Striplokal nennen könne, entschloss mich aber dann, das Ansinnen
amüsant zu finden und ihr, wie es offenbar meine Art ist, zu helfen. Ich
erklärte ihr, so aus dem Kopf wüsste ich keins, würde mich aber schlau machen,
und wir vereinbarten, uns am folgenden Sonntag heimlich in ihrem Salon zu treffen,
wo ich ihr die Ergebnisse meiner Recherchen übergeben würde. Das bedeutete
allerdings, dass ich das Sonntagsmahl bei meinen Eltern schon wieder ausfallen
lassen musste, aber Rita konnte an keinem anderen Tag. Ich erklärte meiner
Mutter, ich würde ihrer Schwester bei den Vorbereitungen für Sams Hochzeit helfen,
und dagegen konnte sie nur schlecht etwas einwenden.
Das Classy Cuts verbirgt sich
hinter einem winzigen Eingang auf der Old Kent Road, eingezwängt zwischen
einem In-die-Plattenladen und der besten Frittenbude von Southwark.
Rita ist
ebenso von der alten Schule wie die Motown-Platten, die sie sammelt, und ihr
Friseursalon brummt, weil sie sich auf Wasserwellen, Turmfrisuren und
Silberblau-Tönung für Bingo-begeisterte ältere Damen spezialisiert hat. Sie ist
schon lange genug im Geschäft, um retro zu sein, ohne es zu merken, und sie
erzählt jedem, der ihr zuhört, wie sie im Krieg als spindeldürre
Sechzehnjährige genau in diesem Salon angefangen hat und wie sie am 8. Mai 1945 aus
ebendiesem Schaufenster geschaut und beobachtet hat, wie Mr. Harvey aus dem
Hutmacherladen gegenüber sich die Kleider vom Leib riss und auf der Straße
tanzte, nur noch bekleidet mit seinem besten Hut.
Fünfzig
Jahre in ein und demselben Laden. Kein Wunder, dass sie in ihrem Viertel in
Southwark sehr beliebt ist, wo das geschäftige Treiben in den Markthallen sich
krass absetzt von der elitären Glitzerwelt in den Docklands. Einige ihrer
ältesten Kundinnen kannten sie schon, als sie als kleines Mädchen in der
Besenkammer hinter dem Friseursalon spielte, und sie lassen niemanden außer
ihr an ihren Kopf, um ihnen eine lavendelfarbene Dauerwelle zu verpassen. »Die
Leute sind nicht dumm«, sagt Tante Rita immer, »wenn man nett zu ihnen ist,
bleiben sie einem treu.« Außerdem hat sie ein untrügliches Händchen dafür, die
neuesten Modefrisuren anzubieten, und das ist auch nicht schlecht fürs
Geschäft.
Ich kenne
mich mit Geschwistern nicht besonders gut aus, aber ich kann mir nicht
vorstellen, dass es irgendwo zwei gegensätzlichere Schwestern gibt. Meine
Mutter ist reserviert, Rita überaus kontaktfreudig; meine Mutter bevorzugt
blitzblanke Pumps mit Blockabsatz, Rita trägt schon zum Frühstück
Pfennigabsätze; meine Mutter ist ein Buch mit sieben Siegeln, was
Familienanekdoten angeht, Rita dagegen eine sprudelnde Quelle der Information.
Und ich weiß das aus erster Hand. Als ich neun war und meine Mutter ins
Krankenhaus musste, um sich die Gallensteine entfernen zu lassen, hat mein
Vater mir eine Tasche gepackt und mich zu Rita geschickt. Ich weiß nicht, ob
meine Tante intuitiv gespürt hat, dass der Sprössling vor ihrer Tür keinen
Bezug zu seinen Wurzeln hatte, oder ob ich ihr ein Loch in den Bauch gefragt
habe, oder ob sie es einfach nur als willkommene Gelegenheit betrachtete,
meine Mutter zu ärgern und in dem ewig währenden Geschwisterkrieg einen Schlag
zu landen, auf jeden Fall hat sie die Woche genutzt, um mich über einiges
aufzuklären.
Sie zeigte
mir vergilbte Fotos, die bei ihr an den Wänden hingen,
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