Morton Rhu - Leben und Werk
seine eigene Phantasie zur Verfügung. Wie viele Romane Morton Rhues basiert auch »Die Welle« auf wahren Begebenheiten. Aber ob diese tatsächlich genau so stattfanden, das kann der Autor bis heute nicht mit Sicherheit beantworten, da er sich auf den Essay von Ron Jones und das Drehbuch verlassen musste. Interessant sind jedoch die Wechselwirkungen zwischen den Textsorten, die sich bei diesem außerordentlichen Stoff ergeben. Rhues Roman »Die Welle« entstand auf der Basis eines Drehbuchs, gleichzeitig inspirierte die Romanfassung des Amerikaners wiederum das Drehbuch zu Dennis Gansels in Deutschland angesiedeltem Film »Die Welle«.
Macht durch Disziplin! Macht durch Gemeinschaft! Macht durch Handeln!
»Die Welle«, wie Morton Rhue sie erzählt
Ben Ross, ein außergewöhnlich kreativer und energiegeladener Geschichtslehrer an der Gordon Highschool, behandelt mit seinen Schülern den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus und zeigt einen Film über Konzentrationslager. Neben Entsetzen und Grauen beschäftigt die Schüler nach der Filmvorführung vor allem eines: Unverständnis. »Wie konnten sich denn die Deutschen ganz ruhig verhalten, während die Nazis massenweise Menschen abschlachteten, und dann behaupten, sie hätten von alledem nichts gewusst? Wie konnten sie das tun? Und wie konnten sie es auch nur behaupten?« So bringt Laurie, Musterschülerin und Chefredakteurin der Schülerzeitung, die Fassungslosigkeit einer ganzen Schulklasse auf den Punkt. Ben Ross versucht, die Fragen seiner Schüler zu beantworten, stellt jedoch fest, dass ihm das nur sehr begrenzt gelingt. Dabei bemerkt er, dass er auch keine befriedigenden Antworten für sich selbst hat.
Zu Hause fragt sich Ben Ross, ob es sich bei den Verbrechen der Nationalsozialisten um etwas handelt, was die Historiker zwar benennen, aber nicht erklären können. Konnte man es überhaupt nur an Ort und Stelle richtig verstehen? Oder vielleicht dadurch, dass man eine ähnliche Situation schuf? Vielleicht könnte ein Experiment helfen, die Schüler nachempfinden zu lassen, wie es damals in Deutschland war.
Am nächsten Tag verhalten sich die Schüler wie immer. Ben Ross schreibt an die Tafel: »Macht durch Disziplin«. Danach lässt er sie eine aufrechte Sitzposition einnehmen. Robert, Außenseiter der Klasse und auch den schulischen Leistungen nach »ein Problemfall« für Ben Ross, zeigt sich hier plötzlich erstaunlich motiviert und vorbildlich. Ben lässt daraufhin die Schüler aufstehen und herumgehen. Auf Kommando müssen sie sich so schnell wie möglich wieder setzen. Ben stoppt die Zeit. Die Schüler gehorchen und üben mehrmals hintereinander. Sie werden immer schneller, immer erfolgreicher.
»Und nun gibt es noch drei Regeln, die ihr zu beachten habt«, erklärte Ben. »Erstens: Jeder muss Block und Kugelschreiber für Notizen bereithalten. Zweitens: Wer eine Frage stellt oder beantwortet, muss aufstehen und sich neben den Stuhl stellen. Drittens: Jede Frage oder Antwort beginnt mit den Worten ›Mister Ross‹. Ist das klar?« Alle nickten.
Ben Ross fragt Geschichtsdaten ab und die Klasse lernt überraschend schnell, seine Regeln zu befolgen. In der Pause tauschen sich die Schüler aufgeregt über das eben Erlebte aus. Die meisten sind von der unerwarteten Autorität begeistert, die sie durch den neuen Unterrichtsstil zu spüren bekommen.
Ben Ross ist erstaunt über die Wirkung, die der Unterricht ausgelöst hat. Entsteht hier gerade Nazi-Deutschland im Kleinen? Faschismus im Klassenzimmer? Mit seiner Faszination und mit seinem Horror?
Am darauffolgenden Tag sitzen die Schüler schon in der angeordneten Position, als ihr Lehrer das Klassenzimmer betritt. Ben Ross geht an die Tafel und schreibt unter die Worte des Vortags: »Macht durch Gemeinschaft«. Er erklärt, was Gemeinschaft und Disziplin bedeuten. Die Schüler seien ein Team, sie gehören zusammen. Die Schüler stehen auf und wiederholen die zwei Grundsätze »Macht durch Disziplin«, »Macht durch Gemeinschaft«. Das Symbol für die neue Gemeinschaft ist ein Kreis mit dem Umriss einer Welle. Ben Ross zeigt den wellenförmigen Gruß mit der rechten Hand. Die neue Regel besagt: Wann immer jemand ein anderes Welle-Mitglied sieht, grüßen sie einander.
Am Tag drei des Experiments teilt Ben Ross Welle-Mitgliederausweise aus. Manche davon sind mit einem X gekennzeichnet. Das bedeutet, dass jene Schüler zu »Helfern« ernannt werden. Ihre Funktion ist es, Regelmissachtungen
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