Morton Rhu - Leben und Werk
ein.«
Die Fernsehmonitore bleiben leer. Die Schüler warten und werden mit der Zeit unruhig, weil nichts zu sehen und zu hören ist.
Wo blieb ihr Führer? Was wurde von ihnen erwartet? Während die Spannung im Raum wuchs, ging immer wieder dieselbe Frage in den Köpfen der Schüler um. Was erwartet man von uns?
Von der Bühnenseite blickte Ben auf sie hinab, und ein Meer von Gesichtern schaute zu ihm auf. War es wirklich eine ganz natürliche Neigung der Menschen, nach einem Führer Ausschau zu halten, nach irgendjemandem, der alle Entscheidungen traf? Die Gesichter, die zu ihm aufblickten, drückten jedenfalls genau das aus. Und das war die fürchterliche Verantwortung jedes Führers: zu wissen, dass diese Gruppe ihm folgen würde.
Ben begann zu begreifen, wie viel ernsthafter dieses kleine »Experiment« war, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Es war furchterregend, wie leicht man den Glauben dieser jungen Menschen manipulieren konnte, wie leicht sie es zuließen, dass man ihnen Entscheidungen abnahm. Wenn die Menschen aber dazu bestimmt waren, dass man sie führte, so dachte Ben, dann musste er dafür sorgen, dass sie eines wirklich lernten: gründlich zu fragen, nie jemandem blind zu vertrauen, sonst …
Die Unruhe im Saal, die Spannung und Hoffnung auf den »Führer« wächst und wächst, bis schließlich ein Bild auf der Leinwand erscheint: Es ist Adolf Hitler. Ben Ross ergreift das Wort: »Es gibt keine nationale Bewegung der Welle, es gibt keinen Führer. Aber gäbe es ihn, dann wäre er es! Seht ihr denn nicht, was aus euch geworden ist? Seht ihr denn nicht, in welche Richtung ihr treibt? Wie weit wärt ihr gegangen? (…) Ihr habt eure Freiheit gegen das verschachert, was man euch als Gleichheit vorgesetzt hat. Aber ihr habt die Gleichheit in Vorherrschaft über die Nicht-Mitglieder verwandelt. Ihr habt den Willen der Gruppe über eure eigenen Überzeugungen gestellt, auch wenn ihr dadurch andere verletzen musstet.«
Abschließend entschuldigt Ben Ross sich bei den Schülern für die schmerzhafte Erfahrung, die er ihnen zugefügt hat und in der auch er selbst zu weit gegangen ist. Viele Schüler weinen, einige sitzen nur verwundert da und andere gehen wortlos aus der Aula. Ben kümmert sich um Robert, den »einzigen Verlierer« in der ganzen Sache.
Morton Rhues Roman endet damit, dass Ben Ross seinen Schüler Robert zum Essen einlädt, weil die beiden doch einiges zu besprechen hätten. Das ist ein guter Schluss, denn er verstärkt die Nachdenklichkeit der Leser. Sie stellen sich nun das Gespräch zwischen dem Fast-Führer und dem Ex-Leibwächter vor. Ein Interview von 1981 mit Ron Jones, dem »echten« Mr Ross, ergänzt die Buchausgabe des Romans.
Auf die Frage, wie Morton Rhue die Arbeit von Ron Jones einschätzt, antwortet der Autor wie so oft aufrichtig und etwas scherzhaft zugleich: »Angesichts der unglaublichen Wirkung, die mein Buch auf Millionen von Lesern in den vergangenen über dreißig Jahren hatte und weiterhin hat, bin ich ihm dankbar, dass er den Einfall zu diesem Experiment hatte. Ich weiß nicht, ob es der beste Weg ist, Schülern den Nationalsozialismus zu erklären, aber es ist mit Sicherheit ein guter Weg.«
Philip Neel war als Schüler von Ron Jones 1967 in der Cubberley Highschool im kalifornischen Palo Alto ein Mitglied der Welle. Heute ist er Fernsehproduzent und hat einen sehenswerten Film als Rückschau auf das Experiment gedreht. Darin wird besonders deutlich, warum »Die Welle« mit all ihren Qualitäten besonders in Deutschland so erfolgreich ist: Das Experiment zeigt, wie Menschen in kurzer Zeit der Faszination des Faschismus erliegen können. Und es enthält in seiner Eindrücklichkeit auch entschuldigende Elemente für deutsche Welle -Leser, denn es wird demonstriert, dass faschistisches Denken und Fühlen überall und jederzeit entstehen können. Dies wird besonders deutlich, wenn Philip Neel in seiner Dokumentation aus der Abschlussrede von Ron Jones zitiert: »Wir hätten sicher alle gute Nazideutsche abgegeben. Wie den Deutschen wird es euch schwer fallen zuzugeben, dass ihr so weit gegangen seid. Ihr werdet nicht zugeben wollen, manipuliert worden zu sein. Ihr werdet nicht zugeben, bei diesem Irrsinn mitgemacht zu haben.«
Philip Neel beobachtet noch heute just dieses Schweigen, wenn er seine damaligen Mitschüler wieder trifft, und erinnert sich: »Ich machte damals zwar mit, war aber eher ein Beobachter der Ereignisse. Ich habe erst Angst bekommen,
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