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Morton Rhu - Leben und Werk

Morton Rhu - Leben und Werk

Titel: Morton Rhu - Leben und Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Bardola
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als ich in der Pause gegenüber meinem besten Freund einen Witz über die Welle machte und am nächsten Tag von Mr Jones vor allen Schülern darauf angesprochen wurde. Denn da wusste ich, dass nur mein bester Freund mich verraten haben konnte. Doch der schaute nur stur geradeaus. Da wurde mir klar, dass es außer Kontrolle geriet.«
    Bis heute macht genau diese minutiöse Beobachtung des Kontrollverlusts die außerordentliche Faszination der Welle aus.
    Strahlkraft des Urtextes
    »Viele Jahre lang hütete ich ein merkwürdiges Geheimnis. Zweihundert Schüler und ich schwiegen. Gestern begegnete ich einem Schüler von damals. Und einen Moment lang sah ich alles wieder vor mir.«
    So beginnt der persönliche Bericht des Lehrers Ron Jones, den er fünf Jahre nach dem 1967 von ihm durchgeführten Faschismus-Experiment veröffentlichte.
    In einem Interview, das ich mit der Illustratorin Stefani Kampmann führte, sagte sie, dass sie sich für den Epilog ihrer Graphic Novel »Die Welle« stark von Ron Jones und seinem Bericht beeinflussen ließ und insbesondere von der Emotionalität des Lehrers.
    In Ron Jones’ Rückblick liest sich der Auftakt zum Experiment Welle so:
    »Meines Wissens hatte Steve Conigio, ein sensibler und intelligenter Schüler (…) The Third Wave mit Fragen ins Rollen gebracht. Wir nahmen gerade im Geschichtsunterricht Nazideutschland durch und Steve unterbrach mich mehrfach. Wie konnten die Deutschen behaupten, nichts von der Judenvernichtung gewusst zu haben? Wie konnten Dorfbewohner, Bahnangestellte, Lehrer, Ärzte behaupten, sie hätten nichts von dem Grauen in den Konzentrationslagern gewusst? Wie konnten die Nachbarn, sogar die Freunde jüdischer Bürger sagen, sie hätten nichts davon mitgekriegt? Gute Fragen. Ich hatte keine Antwort darauf.«
    Eine These liegt allen künstlerischen Ausdrucksformen, die infolge des Sozialexperiments von 1967 entstanden sind, zugrunde: Schüler glauben nicht, dass faschistisches Verhalten wie im Dritten Reich in der Gegenwart noch möglich sein kann, Erzieher zweifeln daran und machen die Probe aufs Exempel. In seinem Bericht beginnt der Lehrer Jones mit dem Thema Disziplin, um sich einer Antwort zu nähern, warum so viele Menschen in Deutschland den Nationalsozialismus zulassen konnten, ja, an ihn geglaubt haben:
    »Am Montag machte ich meine Zehntklässler also mit einem der Wesensmerkmale von Nazideutschland vertraut: Disziplin. Ich hielt ihnen einen Vortrag über die Vorzüge der Disziplin. (…) Um die Macht der Disziplin zu erleben, lud ich die Klasse ein, nein, ich befahl den Schülern, eine neue Sitzposition auszuprobieren. Ich erklärte ihnen, wie die richtige Sitzhaltung erst die pflichtgemäße Konzentrationsfähigkeit ermöglicht und die Willenskraft stärkt. (…) Es war seltsam, wie rasch die Klasse diese einheitlichen Verhaltensregeln annahm. Ich begann mich zu fragen, wie weit man sie noch bringen könnte. War diese Gehorsamkeit, die sie an den Tag legten, eine Art kurzweiliges Spiel, das wir gemeinsam spielten, oder war es etwas anderes? War das Bedürfnis nach Disziplin und Uniformität ein Grundbedürfnis? Ein Gruppeninstinkt, der unter der Oberfläche unserer Fastfood-Ketten und Fernsehprogramme verborgen lauert? (…) Als Gemeinschaftserlebnis ließ ich die Klasse im Chor ›Macht durch Disziplin‹ und ›Macht durch Gemeinschaft‹ rufen. (…) Als die Stunde zu Ende ging, schuf ich spontan einen Gruß für die Gruppe. Sie sollte nur für die Mitglieder der Klasse sein. Dabei hob man die rechte Hand gekrümmt zur rechten Schulter. Ich nannte sie den Gruß von The Third Wave, denn die Hand sah aus wie eine Welle kurz vorm Brechen. Die Zahl drei entsprang der Strandweisheit, dass Wellen in Dreiergruppen kommen, wobei die dritte die letzte und größte der Sequenz ist. Da wir nun einen Gruß hatten, führte ich die Regel ein, dass alle Klassenmitglieder sich außerhalb des Unterrichts zu grüßen hatten. Als der Gong ertönte, bat ich die Klasse um absolute Ruhe. Während alle stramm dasaßen, hob ich den Arm und grüßte mit gekrümmter Hand. Es war ein stillschweigendes Erkennungszeichen. Sie waren jetzt etwas Besonderes. Ohne Aufforderung erwiderte die gesamte Klasse meinen Gruß. (…) Als einige Schüler ihren Eltern von dem Experiment erzählten, lösten sie eine kleine Kettenreaktion aus. Ein Rabbiner rief mich an. Er war höflich, aber herablassend. Ich erklärte ihm, dass wir uns lediglich mit dem Verhalten der Menschen unter dem

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