Morton Rhu - Leben und Werk
Straßenkindern in der ›Ersten Welt‹ ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.«
Akzeptanz als Schlüsselbegriff
Auf die Frage, was Morton Rhue selbst beim Schreiben des Romans gelernt habe, antwortet er am 13. März 2004 der Frankfurter Neuen Presse: »Das Wichtigste von allem: die Kinder so zu akzeptieren, wie sie sind.« Gerade bei Missständen neigen wir dazu, die Stufe der Akzeptanz zu überspringen und sofort Änderungen einzufordern – dieses radikale Vorgehen ist aber oft nicht zielführend. In den von Brigitta Redding-Korn im Ravensburger Buchverlag herausgegebenen Materialien zur Unterrichtspraxis zu »Asphalt Tribe« sollen die Schüler unter anderem verschiedene im Roman dargestellte Möglichkeiten, auf Straßenkinder zuzugehen und ihnen Hilfe anzubieten, sinnvoll gruppieren. Die mit Zitaten gefüllten Sprechblasen reichen von »Wenn ihr noch nicht ganz verblödet seid, würdet ihr nach Hause gehen« bis zu »Wenn ich dir irgendwann einmal helfen soll, nach Hause zurückzugehen, sagst du’s mir einfach, okay? Du findest mich im Streifenwagen oder auf der Wache. Ich werde dir helfen.« So unhaltbar einem der Zustand von Straßenkindern erscheinen mag, so wenig kann mit schroffem Reden, Drohungen oder gar Gewalt erreicht werden – das zeigt Morton Rhue in seinem Roman eindrücklich, zum Beispiel als Maybe so schnell wie nur irgend möglich aus dem Jugendheim abhaut, sich später aber vom Bibliothekar Anthony helfen lässt. Es mag manchmal schwer zu begreifen sein, dass es zielführender sein kann, einem Straßenkind einen Donut und ein offenes Ohr zu schenken, als es gegen seinen Willen in ein Heim zu bringen, ein Umstand, der die Helfenden nicht selten in Konflikt mit ihrer eigenen Verantwortung bringt. Doch mit einem Hilfsangebot – im Gegensatz zu einer Art Hilfszwang – können die Kinder und Jugendlichen wieder ein Gefühl von Würde und Eigenständigkeit gewinnen.
Die Graphic Novel und ihre Interpretation
Stefani Kampmann hat mit »Asphalt Tribe« ihre zweite Graphic Novel auf der Grundlage eines Romans von Morton Rhue veröffentlicht. Wer ihre Interpretation Szene für Szene mit der Romanvorlage vergleicht, wird trotz Kampmanns erneuter Werktreue feststellen, wie oft sie die Reihenfolge von Ereignissen verändert. Das Eselsohr schreibt im April 2012 dazu treffend: »Im Roman darf eine Szene gerne erst auf der nächsten Seite auslaufen, graphisches Erzählen hat andere Gesetze. Das graphische Medium verlangt Kompositionsfähigkeit, nicht nur innerhalb eines Bildes, sondern auf der ganzen Seite. (…) In den vier Jahren zwischen ›Die Welle‹ und ›Asphalt Tribe‹ hat Stefani Kampmann ihre Kunst deutlich weiterentwickelt. Die Figuren sind plastischer geworden. (…) New York wird in ›Asphalt Tribe‹ zu einer weiteren Hauptfigur, basierend auf Streifzügen mit Morton Rhue durch die Stadt bei den Vorbereitungen der grafischen Adaption. (…) Die Schlusssequenz ist bei Kampmann intensiver, sie bietet mehr emotionalen Raum, was die sorgfältige Arbeit mit Rhues Roman pointiert. Graphic Novel, das ist Kino für die Augen und Sinne. Stefani Kampmanns ›Asphalt Tribe‹ ist großes Kino!«
Hier ein kleiner Ausschnitt – die letzten Szenen. Jesse will ans Meer. In der Graphic Novel wird kaum gesprochen. Im Roman dagegen unterhalten sich Anthony und Jesse intensiv. Zwei Tage werden von Stefani Kampmann auf einen kurzen Abstecher ans Meer reduziert. Die Illustratorin bietet den Gedanken und Gefühlen der Leser viel Raum. Und plötzlich kehrt Kampmann das Verhältnis um und legt Jesse einen Satz in den Mund, der im Roman fehlt: »Ich wünschte, Rainbow wäre jetzt hier.« Damit steigert sie die Wirkung im Finale auf ganz eigene Weise.
Auf der Brücke
Die folgende Kurzgeschichte schrieb Morton Rhue in den frühen 1980er Jahren. In den USA wurde sie damals in der Zeitschrift Scholastic Scope veröffentlicht. Seither gilt sie als seine bekannteste Short Story und wird oft im Schulunterricht gelesen und diskutiert. Hier wird sie nun erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht, übersetzt von Katarina Ganslandt. Erzählt wird die Geschichte zweier Jugendlicher, Adam und Seth, die an einem Frühlingsnachmittag nach der Schule auf einer Brücke stehen, rauchen und auf die vorbeifahrenden Autos hinabschauen. Seth bewundert Adam, der sich angeblich schon mehrfach geprügelt hat, auf Lunge raucht und mit Mädchen rummacht. Adam wirkt souverän und trägt eine coole Lederjacke. Seth fühlt
Weitere Kostenlose Bücher