Morton Rhu - Leben und Werk
Missstände umso schärfer. Seine Kritik richtet sich nicht gegen Politiker oder – wie es gegenwärtig geschieht – gegen das Finanzsystem und die Banker, sondern gegen uns alle, die wir wegschauen und Armut und Leid geschehen lassen. Dass jeder etwas tun kann, wird besonders in jenen Passagen des Romans klar, in denen der Bibliothekar Anthony auftritt. Als Einziger hilft er Maybe, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er will keine körperliche Befriedigung von ihr, wie die vielen Freier in »Asphalt Tribe«. Er will aber auch nicht die moralische Befriedigung, Maybe »gerettet« und von der Straße geholt zu haben. Im Gegensatz zu den Sozialarbeitern und Polizisten, die Maybe ins Heim stecken wollen, versteht er, dass auch Straßenkinder einen freien Willen haben. Und so schenkt er Maybe ab und zu Donuts und alte Kleidung – oder einfach Zeit zum Reden. Als gegen Ende des Buches der Asphalt Tribe fast komplett auseinandergebrochen ist und Maybe merkt, dass für die zwölfjährige Tears das Leben auf der Straße bald das Ende bedeuten könnte, ist es Anthony, der den beiden hilft. Er findet die Adresse von Tears’ Großeltern in West Virginia heraus und überredet diese, ihre Enkelin bei sich aufzunehmen. Dann nimmt er sich einige Tage frei und fährt die beiden Mädchen selbst von New York nach West Virginia.
Nachdem sie Tears zu ihren Großeltern gebracht haben, machen sich Anthony und Maybe auf den Weg zurück. Anthony versucht sanft auf Maybe einzuwirken, vielleicht doch noch etwas aus ihrem Leben zu machen. Und Maybe nennt ihm gegenüber als Einzigem ihren vielleicht richtigen Namen: Jesse.
Morton Rhue lässt »Asphalt Tribe« hoffnungsvoll am Meer enden. Vielleicht ist für Maybe doch noch nicht alles zu spät.
Eine große Welle krachte auf den Strand und ihre Ausläufer umspülten meine Knöchel. Das Wasser war eisig kalt und meine Füße versanken noch tiefer im feuchten Sand. Meine Zähne klapperten, aber ich wollte nicht weg. Ich fühlte etwas, was ich noch nie zuvor gefühlt hatte. Vielleicht hatte Anthony Recht. Vielleicht gab es viele Orte, an denen man leben konnte. Und auch viele Möglichkeiten, wie man leben konnte. Vielleicht sollte ich das eine oder andere mal ausprobieren. Aber eins wusste ich jetzt schon ganz genau – alles war besser, als auf der Straße zu leben.
»Jesse?«
Ich drehte mich um. Anthony stand am Strand, die Hände tief in den Taschen vergraben. »Komm«, sagte er. »Bevor du noch krank wirst.«
»Okay.« Ich ging den Strand hinauf. Meine Füße waren gefühllos und ich hörte gar nicht mehr auf zu zittern. Aber das Komische war, ich spürte, dass ich nicht krank werden würde. Im Gegenteil, es würde mir besser gehen.«
Nicht nur in den USA , auch in Deutschland gibt es Straßenkinder. Das Kinderhilfswerk Terre des hommes geht von bis zu 9000 Kindern und Jugendlichen aus, die in Deutschland zeitweilig auf der Straße leben. Und Markus Seidel, Vorsitzender der deutschen Hilfsorganisation Off-Road-Kids, sagt über »Asphalt Tribe«: »Ein Roman, eine Fiktion, eine erfundene Geschichte – gewiss, aber dennoch grausame Realität.«
So berichtete SPIEGEL -Online im August 2008 unter dem Titel »Mit 17 hat man kaum noch Träume« über den neunzehnjährigen Peter, der in Köln auf der Straße lebt. Peters Geschichte erinnert an die Figuren in Rhues »Asphalt Tribe«: drogensüchtige Eltern, eine Pflegefamilie, mit der Peter nichts anzufangen weiß, und schließlich die Obdachlosigkeit. Dort erlebt Peter zum ersten Mal so etwas wie eine Familie, rutscht aber auch immer stärker in Abhängigkeit und Verwahrlosung ab. »Mit seinen Leuten im Rheinpark hat Peter für heute Abend ein Essen geplant, man könnte sagen: ein Festessen. Sie haben eine Ente erlegt, sie mit einem Stein auf dem Rhein abgeworfen. Als die Ente bewusstlos im Wasser trieb, hat ein Kollege von Peter sie rausgezogen, ihr den Hals umgedreht, bis sie tot war.«
Das sind Szenen, die man sich in Deutschland nur schwer vorstellen kann, die sich aber gleichwohl in einer Parallelwelt zum Durchschnittsbürgerdasein tagtäglich ereignen.
Morton Rhues Buch leistet wertvolle Aufklärungsarbeit. Es macht deutlich, dass auch in unseren reichen westlichen Demokratien Verelendung und Aussichtslosigkeit existieren – nicht nur in fernen Entwicklungsländern, wie Doris Schröder-Köpf treffend im Grußwort zu »Asphalt Tribe« sagt: »Ein Glück, dass Morton Rhue mit diesem Buch dazu beiträgt, die Existenz von
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