Morton Rhu - Leben und Werk
fest, das ihnen noch geblieben ist: ihrer eingebildeten Freiheit auf der Straße. Nach eigenen Regeln zu leben, das ist alles, was sie haben. Und so hält es auch Maybe im Heim nicht aus. Schon nach der ersten Nacht werden ihr die Vorschriften zu viel und sie geht wieder auf die Straße.
»Du musst jetzt aufstehen«, sagte Laura.
»Ich bin müde.«
»Es gibt jetzt Frühstück. Hast du denn gar keinen Hunger?«
Mein Magen war völlig leer, und obwohl ich gern noch geschlafen hätte, stand ich auf und ging nach unten. Ich setzte mich neben Spyder an den runden Tisch und bekam Haferflocken und Saft zum Frühstück. Danach sollten wir uns in einen Kreis setzen und von unserem Leben erzählen. Laura sagte, ich müsste nichts sagen, wenn ich nicht wollte, drängte mich aber, mich wenigstens dazuzusetzen. Ich konnte aber nur an das weiche Kopfkissen und das warme schöne Bettzeug denken.
»Ich möchte wieder nach oben gehen«, sagte ich.
»Das ist nicht erlaubt«, sagte Laura. »Wenn du müde bist, kannst du hier unten schlafen.«
Ein paar Kids setzten sich zum Reden in einen Kreis. Die meisten sahen älter aus als ich. Wie Spyder hatten sie alle Tattoos, Piercings und gefärbte Haare. Alle Stühle und die Couch waren besetzt, also legte ich mich auf den Fußboden und schloss die Augen.
Es war nicht leicht, einzuschlafen, wenn die anderen redeten, und es war längst nicht so gemütlich wie das Bett oben. Dann machten sie den Fernseher an und guckten bis zum Mittagessen. Aber ich hatte keinen Hunger.
»Du musst dich trotzdem zu den anderen an den Tisch setzen«, sagte Laura.
Nach dem Essen sollten wir aus Federn und Schnüren und Draht etwas basteln. Laura sagte wieder, ich müsste nicht mitmachen, also saß ich bloß daneben. Spyder lächelte, aber für die anderen Kids war ich wie Luft. Inzwischen hatte ich wieder Hunger und wollte etwas essen, aber Laura erklärte mir, ich müsste bis zum Abendessen warten.
Ich wartete, bis sie aus dem Zimmer gegangen war. Dann schnappte ich mir eine schwarze Skijacke aus dem Schrank und ging.
Da Morton Rhue »Asphalt Tribe« aus der Ich-Perspektive erzählt, ist er immer nah am Geschehen dran und lässt die Ereignisse für sich sprechen:
»Wem gehört dieser Hund?«
Über uns stand eine Frau mit krausen roten Haaren. Sie trug ein graues Sweatshirt, auf dem PETA stand.
»Der gehört mir.« OG griff nach Pest und zog ihn zu sich heran.
»Ihr dürft ihn nicht mit Abfällen füttern«, sagte die Frau.
»Das sind gute Abfälle«, sagte ich und zeigte ihr einen angebissenen Big Mac. Ein Stück Salat fiel auf den Gehweg. Bloß um die Frau zu schockieren, hob ich es auf und steckte es mir in den Mund. »Gut genug für Menschen.«
Tears zeigte auf wie in der Schule. »Was heißt PETA ?«
»Das ist die Abkürzung für einen Tierschutzverein«, antwortete die Frau und wandte sich dann wieder OG zu. »Ist er geimpft?«, wollte sie wissen. OG s Antwort ging in einem Hustenanfall unter. »Und Sie?«, fragte Tears. Ich hatte noch nie erlebt, dass Tears zu einem Erwachsenen frech geworden war. Langsam lernte sie, wie man sich als Straßenkind behauptete. »Natürlich ist er nicht geimpft«, beantwortete die Frau ihre Frage selbst. »Ihr könnt nicht einmal für euch selbst sorgen und schon gar nicht für ein Tier. Ist er kastriert?« »Hau ab«, krächzte OG hustend.
»Es müsste verboten sein, dass ihr Tiere haltet«, sagte die Frau. »Ihr könnt doch nicht für sie sorgen.«
Auch wenn es Lesern leicht fällt, Mitleid mit den Straßenkindern zu haben und deren gefühlskalte, für menschliches Leid oft blinde Umwelt zu kritisieren, so sorgt Morton Rhue doch immer wieder dafür, dass die Leser aus diesem zweifelhaften moralischen Wohlgefühl herausgeworfen werden. Denn der Autor zwingt einen dazu, die eigene Einstellung zu den Außenseitern der Gesellschaft zu hinterfragen. Wer »Asphalt Tribe« liest, dem wird klar, dass niemand sich ein Leben auf der Straße aussucht und dass populistische Parolen über Obdachlose (»… die Penner haben sich das selbst ausgesucht, weil sie zu faul zum Arbeiten sind …«) in den allermeisten Fällen unwahr sind. Das Leben auf der Straße ist kein Spiel.
Wertvolle Aufklärungsarbeit
Morton Rhue sucht nicht nach Schuldigen. In »Asphalt Tribe« finden sich kaum Äußerungen gegen den Kapitalismus, gegen den Staat oder gegen die Gesellschaft. Rhue will einfach eine Geschichte erzählen und gerade dadurch wird seine Anklage gegen die bestehenden
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