Morton Rhu - Leben und Werk
wenn sie das sagte. Ich wollte nicht, dass sie so von mir dachte.
»Oje, jetzt habe ich dich verletzt.« Rainbow schob schmollend die Unterlippe vor.
»Tut mir leid, Maybe. Ich bin doch auch schmutzig und stinke. Wir sind die schmutzigen stinkigen Zwillinge!«
Um sich zu waschen gehen die zwei Mädchen in eine öffentliche Bücherei. Dort schließen sie sich im Bad ein und genießen es, alle verdreckten Kleidungsstücke auszuziehen und die dicken Schichten Schmutz abzuwaschen. Sie haben viel Spaß, albern herum und seifen sich gegenseitig den Rücken ein. Doch dann kippt das Bild. Morton Rhue ändert die Perspektive drastisch. Auf einmal wirken die beiden Mädchen wie Aussätzige, mit denen andere Menschen machen können, was sie wollen.
Angelockt vom Lärm, öffnet Bobby, der Wachdienstbeauftragte der Bibliothek, die Tür und ist entsetzt: überall Wasser, Schmutz und Toilettenpapier.
Und so zwingt Bobby die Mädchen zum Aufräumen:
»An die Arbeit«, knurrte Bobby. Dann griff er noch einmal in den Schrank und schmiss eine Rolle Plastikmüllsäcke nach uns. Rainbow und ich saßen in der Falle. Zitternd bewegten wir uns auf die Behindertentoilette zu.
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Bobby.
»Unsere Sachen holen«, antwortete Rainbow. Bobby grinste hämisch. »Nichts da, das macht ja keinen Spaß, ihr arbeitet gefälligst so, wie ihr seid.«
Wir bewegten uns langsam weiter zur Tür hin.
»Hey!«, schrie Bobby und stapfte auf uns zu. Aber er rutschte mit seinen Arbeitsstiefeln auf den glitschigen Papiertüchern aus, geriet aus dem Gleichgewicht und musste heftig mit den Armen rudern, um nicht hinzufallen. Rainbow und ich grinsten. Rumms! Bobby hatte das Gleichgewicht wieder gefunden und knallte die Klotür zu. Wir zuckten zusammen. »Das fandet ihr wohl witzig, was?«, schrie er und kam näher. »Komm her, du Miststück.« Er packte mich an den Haaren und riss mir den Kopf nach unten. Ich landete mit Knien und Ellbogen auf dem harten nassen Fliesenboden. Verdammt, das tat weh.
»Und jetzt an die Arbeit!«, sagte er und zeigte auf Rainbow. »Du auch!«
Für Bobby haben Maybe und Rainbow ihr Menschsein verloren. Sie sind Ungeziefer, Außenseiter, die Unordnung in seinen geregelten Arbeitstag bringen. Und weil sie sich nicht wehren können, hat er keine Angst, aufgestaute Aggressionen in voller Härte an ihnen auszulassen. Es geschehen brutale Dinge, weil die Menschenwürde fehlt.
Neben solcher Brutalität schildert Morton Rhue in »Asphalt Tribe« auch den alltäglichen Ekel der Straße, sodass es dem Leser schon mal mulmig zumute wird, wenn von verschorften Wunden oder dem Gestank in der »Pissgasse« detailliert berichtet wird.
Rhue legt eine realistische Schilderung der Welt vor, in der Straßenkinder leben – eine Welt, die man sich sonst lieber gar nicht vorstellen mag. Wer steigt schon gern in nasse schmutzige Sachen, die neben einem Klo gelegen haben? Aber wir hatten keine Wahl, also zogen wir uns langsam an. Die Sachen stanken entsetzlich. Als Letztes zog Rainbow ihre Lederjacke über das nasse, verdreckte Sweatshirt.
Mit psychologischer Ursachenforschung hält sich Morton Rhue weitgehend zurück – manchmal streut er einen analytischen Gedanken ein, zum Beispiel den, dass Kinder als schwächstes Glied ihrer Familie und Umgebung zum unfreiwilligen Auffangort für die Aggressionen derer werden können, die irgendwo höher in der Hierarchie stehen. Meistens aber begeben sich die Leser direkt mit Maybe auf die Straße und dann überkommt sie ein Anflug von Übelkeit, wenn die Kinder gefrorene Pizza aus einer Mülltonne essen, bei Minusgraden.
Zweifelhaftes moralisches Wohlgefühl
Nicht alle verachten die Straßenkinder, aber fast jeder tritt ihnen mit seinen Vorurteilen entgegen. Morton Rhue ist in diesen Betrachtungen nicht einseitig und bemüht keine Klischees. Weder dämonisiert er die Straßenkinder, noch glorifiziert er sie. Es sind Jugendliche, die ein Leben führen müssen, das für die meisten Gleichaltrigen in Erste-Welt-Ländern unvorstellbar ist. Tragisch dabei ist, dass die Straßenkinder sich selber am meisten im Weg stehen. Denn durch die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit und durch das verrohende Leben auf der Straße ist es für sie schwierig, sich in einen normalen Alltag einzugliedern.
Der Weg, über den sie von der Straße wegkommen könnten, führt meist in eine Heimanstalt. Doch mit großem Willen und einer ungeheuren Sturheit halten die Straßenkinder an dem Letzten
Weitere Kostenlose Bücher