Morton Rhu - Leben und Werk
nur fünf von einhundert Schülern in der Highschool das Klassenziel Mathematik oder Englisch. Diese Tatsachen alleine erschrecken zwar den Intellekt, aber lassen einen sonst eher kalt. Umgekehrt würde die Geschichte Kalons einen ohne diese Fakten zwar erschüttern, aber man könnte sie doch leicht in den Bereich der Dichtung und Übertreibung schieben. Aus dem Zusammenspiel der die Gefühle ansprechenden Handlung und dem rationalen Überbau entsteht ein Buch, das einen zwingt, hinzuschauen und sich wirklich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Natürlich sind Ghettos auch in der amerikanischen Öffentlichkeit manchmal Thema, allerdings nur, wenn eine besonders erschreckende Gewalttat stattfindet. Auch Kalons Viertel rückt in den Fokus von Medien und Lokalpolitik, als eine hochschwangere Frau von zwei Vierzehnjährigen angeschossen wird. Abends sitzt Kalon mit seiner Familie vor dem Fernseher. Sie schauen sich eine Diskussionsrunde über ihr Ghetto an.
»Seien wir doch ehrlich«, sagte die weiße Frau. »Dort haben nur die Stärkeren eine Chance. Wer in diesen Ghettos überlebt, hat das einzig und allein seiner Intelligenz und seinen Instinkten zu verdanken. Dort herrscht das Gesetz des Dschungels. Des Asphaltdschungels. Die Siedlungen sind der Müllplatz für die Gescheiterten unserer Gesellschaft. Wer dort landet, ist für die Zivilisation verloren.«
»Mir reicht’s. Das sind doch alles Idioten.« Denzel machte den Fernseher aus und stand auf. Es wurde still im Zimmer. Draußen hörte man rangierende Güterzüge und irgendwo einen Song von Coolio.
Asphaltdschungel …
Müllplatz …
Verloren …
»Gib her.« Gramma nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher wieder an. Lachkonserven dröhnten aus dem Lautsprecher. Aber bei uns lachte niemand mit.
Je älter Kalon wird, desto schwieriger wird es für ihn, sich aus den Gangs rauszuhalten. Terrell ist inzwischen bei den Douglass-Disciples und dealt mit Gras und Crack. Er hat immer reichlich Geld, eine X Box und neue Sneakers.
Auf der anderen Seite erlebt Kalon seinen Freund Lightbulb als einen Menschen, der konsequent versucht, ehrlich zu bleiben. Lightbulb wischt Tische in einem Fastfood-Restaurant. Dort wird er angebrüllt, schuftet wie ein Irrer und ist trotzdem immer klamm. Mit dem sprechenden Namen und seiner Tugendhaftigkeit scheint Lightbulb wie ein kleines Licht im Dunklen. Ein sehr kleines, gemessen an der Dunkelheit, die im Ghetto herrscht.
Der finanzielle Druck auf Kalons Familie erhöht sich drastisch, als Kalons Großmutter gesundheitliche Probleme bekommt und nicht mehr putzen gehen kann. Kalons Schwester Nia bringt Zwillinge zur Welt – ein paar Monate, nachdem der Vater Denzel erschossen wurde. Und Kalon will wenigstens ab und zu mit Tanisha ausgehen.
Als einziger Ausweg bleibt nur noch die Gang. Kalon gibt auf und bittet Marcus, aufgenommen zu werden.
Die Leute, die in schicken Anzügen in Diskussionsrunden saßen und sich so vornehm ausdrückten – die mochten behaupten, auch wir hätten eine Chance.
Die Lehrer, die ein Jahr lang an unserer Schule unterrichteten und dann wieder verschwanden, mochten sich einbilden, auch wir hätten eine Chance.
Die Politiker, die jeden Vorwand nutzten, um ins Fernsehen zu kommen, mochten den Zuschauern weismachen, auch uns gäbe man eine Chance.
Aber alle kannten die Wahrheit: Wir hatten keine Chance. Wer im Ghetto lebt, hat keine Chance.
Für Kalon beginnt ein neues Leben. Er hat Geld, kann für seine Familie sorgen und wird von allen in seinem Viertel mit Respekt behandelt. Makabererweise fängt Kalon in dem Moment an, den amerikanischen Traum zu leben, als er sich entschließt, kriminell zu werden.
Überhaupt ist Rhue in diesem Roman so aktuell wie noch nie. Denn jetzt, nach über hundert Jahren stetigem Aufstieg, kommen die USA in Zeiten der Wirtschaftskrise ins Straucheln. Und die Risse, die durch dieses Land gehen, das unvorstellbaren Reichtum genauso schnell hervorbringt wie Massen an Obdachlosen, werden für alle sichtbar. Diese Risse waren schon länger da und Rhue ist einer, der schon immer dahin gezeigt hat, wo es wehtut.
Die lähmende Tatenlosigkeit der Guten
Eines Abends beobachtet Kalon, wie Marcus von Jamar, dem zweiten Mann der Disciples, erschossen wird. Später erzählt Jamar den Gangmitgliedern, dass Marcus von einem irren Junkie erschossen wurde, und macht ihnen klar, dass er ab jetzt der neue Boss ist. Kalon behält seine Geschichte für sich und erzählt nur seinem
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