Morton Rhu - Leben und Werk
größeren Wunsch hat, als bei den Douglass-Disciples aufgenommen zu werden, will Kalon sich aus alldem raushalten und die Schule abschließen. Warum er das will, weiß er nicht genau.
Fiktion und Statistik
Kalon ist sich sicher, dass er auf keinen Fall in einer Gang enden will. Und eines Tages bietet sich in der Schule tatsächlich so etwas wie eine Chance.
Gramma sagte immer, ich sei ein guter Junge, weil ich tue, was man mir sagt. Aber meistens tat ich das nur, weil es einfacher war, als es nicht zu tun. Mir war ziemlich klar, dass die Schule mir nicht wirklich weiterhelfen würde. Wir alle kannten die Geschichten von den reichen und berühmten Rappern wie 50 Cent oder von Sportstars, die in den Ghettos aufgewachsen waren. Aber noch nie hatte ich von jemandem aus den Ghettos gehört, der berühmt geworden war, weil er gute Noten hatte.
Mr Brand klopfte mit dem Radiergummi eines Bleistiftes auf seinen Schreibtisch.
»Hast du schon von der Hewlett School gehört, Kalon?«
»Nein, Sir.«
»Das ist eine besondere Schule drüben in Beech Hill für Kinder, die eine Chance verdient haben«, sagte er. »Dort könntest du mehr lernen als hier.«
Doch Kalon lässt die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen als die Jugendlichen aus seinem unmittelbaren Umfeld, ungenutzt verstreichen.
Morton Rhue serviert den Lesern die Motivation seiner Figuren nicht auf dem Silbertablett. Es wird nicht explizit gesagt, warum Kalon nicht versucht, nach Beech Hill zu kommen. Das kurze Gespräch mit dem Lehrer gerät einfach in Vergessenheit, sei es aus Fatalismus, sei es, weil Kalon weiter bei seinen Freunden bleiben will.
So vergeht die Zeit, so wird Kalon langsam älter: Das Leben in seiner Siedlung ändert sich kaum, ab und zu stirbt jemand, seltener kommen neue Leute dazu.
Erst als Kalon in der Schule die attraktive Tanisha kennenlernt, verlässt er manchmal sein Viertel. Außerdem gewinnt »Ghetto Kidz« deutlich an Fahrt, denn Tanishas Bruder William ist bei den Gentry-Gangstas. Und auch wenn Kalon selber kein Mitglied bei den Douglass-Disciples ist, so wohnt er doch in ihrem Revier.
Frei nach »Romeo und Julia« entwickelt sich zwischen Kalon und Tanisha eine unmögliche Liebe. Meistens sehen sie sich nur in der Schule, manchmal wagen sie sich in dunkle Bars. Doch eines Abends riskieren sie zu viel: Kalon besucht seine Freundin zu Hause, weil beide denken, dass William erst spät zurückkommt. Als William früher als erwartet eintrifft und die beiden entdeckt, rastet er aus und ist kurz davor, Kalon zu erschießen.
»Du darfst ihn nicht erschießen! Er ist kein Disciple!«, rief Tanisha.
»Nicht hier«, antwortete William finster. Ohne die Waffe runterzunehmen, sah er zu seiner Schwester hinüber. »Wie kannst du nur so bescheuert sein? Was meinst du, was passiert, wenn sich hier rumspricht, dass du was mit einem aus Douglass hast? Genauso gut könntest du mich gleich vor ein Erschießungskommando stellen.«
»Bitte, lass ihn gehen«, flehte Tanisha.
»Hast du vor, ihn wiederzusehen?«, fragte William.
Mit dieser Frage hätten wir rechnen müssen – hatten wir aber nicht. Tanisha klappte den Mund auf, brachte aber kein Wort heraus.
»Und? Jetzt sag schon, sonst muss ich diesen Penner hier wegpusten.«
Eine Träne lief Tanishas Wange hinunter. Sie ließ den Kopf hängen. »Ich tu’s nicht.«
»Was tust du nicht?«
»Ihn wiedersehen!«, schrie sie verzweifelt und rannte ins Wohnzimmer zurück.
Kalon, der »Ghetto Kidz« aus der Ich-Perspektive erzählt, kennt nichts anderes als die Gewalt und die Armut in seinem Ghetto. Für ihn ist es normal, seine Freundin nur heimlich treffen zu dürfen, weil sie ein paar Straßen weit weg – im Revier einer anderen Gang – wohnt. Für ihn ist es normal, dass Freunde und Schulkameraden Crack verkaufen. Für ihn ist es normal, zum Geräusch von Sirenen und Schüssen einzuschlafen. Wenn das Geld am Monatsende knapp wird, isst er seine Cornflakes mit gezuckertem Wasser und seinen Reis mit Ketchup. Der Mensch schlägt sich durch. Was so ein Leben mit Menschen macht, erzählt Morton Rhue nicht nur als fiktive Geschichte. Immer wieder werden nüchterne statistische Daten zwischen die Kapitel gestellt, die die Ereignisse im Roman untermauern.
So wird einem besonders blutigen Erzählabschnitt folgender Satz vorangestellt: Junge arbeitslose Schwarze ermorden sich gegenseitig neunmal so häufig wie weiße Jugendliche. Oder: In manchen Gang-Hochburgen in Kalifornien erreichen
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