Mosaik
gefolgt von lautem Donnern, das Kathryn beunruhigte – sie ging schneller.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Schleusen des Himmels öffneten und wahre Fluten herabströmten. Innerhalb weniger Sekunden war Kathryn völlig durchnäßt, und der Boden unter ihren Füßen verwandelte sich in Brei.
Sie stapfte weiter. Schlamm klebte an ihren Beinen, kroch ihr in die Schuhe. Die Regentropfen prasselten noch zorniger, und der Wind riß sie fast von den Beinen. Sie mußte sich den Böen entgegenstemmen und brauchte ihre ganze Kraft, um auch weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Tränen brannten ihr in den Augen, vermischten sich mit dem kalten Regen. Sie schluchzte so heftig, daß sie am ganzen Leib bebte. Seltsamerweise brachte ihr Leid auch einen gewissen Trost, denn heute verdiente sie es, zu leiden.
Irgendwo in der Ferne sah sie die Lichter eines Hoverwagens.
Bei diesem Wetter sollte er eigentlich nicht unterwegs sein –
wenn der Wind so heftig wehte, konnten Hoverwagen außer Kontrolle geraten. Wer auch immer ihn lenkte: Vermutlich suchte er nach einem Ort, der Sicherheit versprach.
Plötzlich begriff Kathryn, wie dunkel es geworden war. Die Böen ließen ein wenig nach, und nach den Blitzen dauerte es länger, bis es donnerte, aber es regnete noch immer sehr stark.
Und die Nacht hatte begonnen. Sie blieb stehen, drehte sich um und merkte, daß sie nicht mehr wußte, wo sie sich befand. Sie sah Felder und Hügel, auch einen bewaldeten Bereich, aber wo ging es nach Hause?
Ihre Tränen trockneten, als der Verstand wieder aktiv wurde.
Was sollte sie jetzt unternehmen? Bleib an Ort und Stelle. Wenn man sich verirrt hatte, so verschlimmerte man seine Situation nur, wenn man ziellos umherwanderte. Viel besser war es, sich zu setzen und auf Hilfe zu warten.
Der Regen ließ nach. Kathryn stellte die Tennistasche auf den schlammigen Boden, nahm daneben Platz und legte schließlich den Kopf auf die Tasche, benutzte sie als improvisiertes Kissen.
Sie beschloß, einfach zu schlafen. Am nächsten Morgen, wenn die Sonne aufging, würde sie den Weg nach Hause finden.
Erst jetzt wurde ihr klar, welche Erschöpfung sich in ihr angesammelt hatte. Sie schloß die Augen, und ihre
dahintreibenden Gedanken befaßten sich mit analytischer Geometrie und der Entfernungsformel. Kathryn fühlte sich ausgelaugt und leer, wodurch in ihrer mentalen Welt eine sonderbare Ruhe herrschte. Und als sie nicht mehr angestrengt versuchte, eine Lösung zu finden, präsentierte sie sich von ganz allein.
Sie kam aus dem Altertum. Vor fast dreitausend Jahren hatte ein visionärer Mathematiker namens Pythagoras einen Lehrsatz entwickelt, der die beiden Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks mit der Länge der Hypotenuse in Verbindung brachte –
die Entfernung zwischen zwei Endpunkten. Von einem
Augenblick zum anderen begriff Kathryn, daß es sich dabei um die Lösung für die Ableitung der Entfernungsformel handelte.
Und dann hob ihr Vater sie hoch. Seine starken Arme ergriffen sie und drückten sie sanft an seine Brust. Sorge und Erleichterung zeigten sich in Daddys Gesicht. Kathryn lächelte und entspannte sich, ließ sich von ihm zum Hoverwagen tragen und in eine Decke hüllen.
»Ich habe Licht gesehen«, murmelte sie schläfrig. »Stammte es von dir? Bei dem Gewitter hättest du nicht unterwegs sein sollen.«
»Du warst irgendwo hier draußen, Kathryn. Ich mußte dich finden.«
»Tut mir leid, Daddy.«
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Ich habe das Match verloren und verdiente es nicht, zusammen mit den anderen heimzukehren.« Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen und schwieg einige Sekunden lang. »Aber weißt du was?
Ich hab herausgefunden, wie man die Entfernungsformel ableitet.
Mit dem pythagoreischen Lehrsatz, nicht wahr?«
Ihr Vater lachte leise. »Du bist ein komischer kleiner Vogel.« Er betrachtete den an Kathryn klebenden Schlamm. »Heute nacht bist du eine Amsel.« Stille folgte diesen Worten, und dann sah er erneut zu ihr. »Bitte versprich mir, daß sich so etwas nie wiederholt. Wir haben uns alle große Sorgen um dich gemacht.«
»Ich verspreche es, Daddy.« Kathryn wartete auf ein Lob dafür, daß es ihr gelungen war, das Rätsel der Entfernungsformel zu lösen, aber ihr Vater sprach nur darüber, wie besorgt die ganze Familie gewesen war.
Daheim trat sie unter die Dusche, löffelte eine heiße Suppe und ließ sich dann von ihrer Mutter zu Bett bringen. Daddy hatte sich in sein Arbeitszimmer
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