Moskauer Diva
Moskau seien Wahrsager und Seher groß in Mode. Das interessiert mich, sehr sogar!«
»Ja, ich habe mich mit Hellsehen befasst. In Japan«, sagte Erast Petrowitsch mit ernster Miene. Er fand, das sei eine sehr bequeme Version für die bevorstehenden Ermittlungen. Zumal Hellseherei und Deduktion (also ein heller Kopf) vieles gemeinsam hatten.
»Phänomenal!« Stern sprang lebhaft aus seinem Sessel auf. »Können Sie Ihre Kunst vielleicht demonstrieren? Jetzt gleich, an mir? Ich bitte Sie, schauen Sie in meine Zukunft! Nein, besser in die Vergangenheit, damit ich Ihr Können auch beurteilen kann.«
Was für ein agiler Herr, dachte Fandorin. Eine wahre Quecksilberkugel. (Dieser Vergleich kam ihm in den Sinn, weil der kahle Schädel des Regisseurs unter einem Sonnenstrahl aufblitzte – es war ein schöner Septembertag.)
Die Lektüre der Zeitungen und die Anrufe, mit denen Erast Petrowitsch den halben Tag verbracht hatte, gaben wenig Aufschlussüber die Biographie von Noah Stern. Er galt als verschlossener Mann, der nicht gern über seine Vergangenheit sprach. Bekannt war lediglich, dass er im jüdischen Ansiedlungsgebiet aufgewachsen war, in äußerster Armut, und in seiner Jugend herumvagabundiert war. Angefangen hatte er als Zirkusclown, dann sehr lange an Provinztheatern gespielt, bis er schließlich berühmt wurde. Eine eigene Truppe leitete er erst seit einem Jahr, seit ihn die »Gesellschaft für Theater und Kinematographie«, die auf sein Talent setzte, förderte. Den Zeitungsleuten tischte Stern jedes Mal andere Phantasiegeschichten auf, offenkundig mit Absicht. In einem waren sich alle einig: Dieser Mann ist von einer einzigen Leidenschaft besessen – dem Theater. Familie hatte er nicht, und offenbar ebenso wenig ein Zuhause. Nicht einmal Affären mit Schauspielerinnen.
»Ich soll in Ihre V-vergangenheit schauen?«
Das lebhafte Gesicht des Regisseurs zuckte vor Gier nach einem unverzüglichen Wunder.
»Ja, irgendetwas aus meiner Kindheit.«
Er ist sicher, dass niemand etwas über diesen Abschnitt seines Lebens weiß, begriff Erast Petrowitsch. Na schön, wenn schon hellsehen, dann …
»Sagen Sie, ist Noah Nojewitsch Ihr richtiger Name?«
»Absolut. Laut Geburtsurkunde.«
»Verstehe …« Fandorin zog die schwarzen Brauen zusammen und rollte die Augen in Richtung Stirn, über die sein graumelierter Schopf fiel (genau das würde seiner Vorstellung nach ein Hellseher tun).
»Der Anfang Ihres Lebens war traurig, m-mein lieber Herr. Ihr Vater hat Sie nie gesehen. Er ist ins Jenseits eingegangen, als Sie noch im Bauch Ihrer Mutter weilten. Sein Tod kam ganz plötzlich – ein überraschender Schicksalsschlag.«
Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich irrte, war gering. Bei den Juden ist es alter Brauch, die Kinder nach einem verstorbenen Verwandten zu benennen, fast nie nach einem Lebenden. Darumkommt es selten vor, dass der Sohn denselben Namen trägt wie der Vater. Es sei denn, dieser ist tot. Die Vermutung hinsichtlich des plötzlichen Todes war ebenfalls kein allzu großes Risiko. Menschen, die lange und schwer krank sind, bringen keinen so vitalen Nachwuchs hervor.
Die simple Deduktion verblüffte den emotional empfänglichen Theatermann.
»Phänomenal!«, rief er und griff sich ans Herz. »Das habe ich nie jemandem erzählt! Keiner Menschenseele! Niemand in meiner Umgebung weiß das! Mein Gott, ich liebe alles Unerklärliche! Erast Petrowitsch, Sie sind einfach einmalig! Ein Wundertäter! Mir war vom ersten Augenblick an klar, dass ich einen außergewöhnlichen Menschen vor mir habe. Wäre ich eine Frau oder ein Anhänger Oscar Wildes, ich würde mich zweifellos in Sie verlieben!«
Den Scherz begleitete ein charmantes Lächeln. Die weit geöffneten braunen Augen sahen Fandorin mit echter Sympathie an, auf die nicht zu reagieren unmöglich war.
Er umgarnt mich, dachte Erast Petrowitsch, lässt seinen Charme spielen, und zwar äußerst geschickt. Dieser Mann ist ein ausgezeichneter Schauspieler, ein geborener Manipulator. Mein kleiner Trick hat ihn erschreckt, und nun will er herausfinden, was ich für ein Vogel bin, will mich knacken und zähmen. Bittesehr, knack ruhig. Aber beiß dir nicht die Zähne aus.
»Sie besitzen die innere Stärke der Großmut«, schmeichelte Noah Nojewitsch ihm weiter. »Oh, mit solchen Dingen kenne ich mich aus. Ich verspüre bei kaum jemandem das Bedürfnis, offen zu sein, aber bei Ihnen möchte man gern schutzlos sein … Ich bin schrecklich froh, dass Olga
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