Moskauer Diva
Swist. Unten gab es zwei große Räume. Der eine war, den Möbeln nach zu urteilen, das Speisezimmer, der andere, in dem sich ständig Wachposten aufhielten, das Büro. Fandorin konnte im orangeroten Licht der Petroleumlampen sogar zwei große lackierte Schränke von ungewöhnlicher Form schimmern sehen. Das war zweifellos das persönliche Archiv Seiner Spekulantenhoheit.
Das hier war nicht gerade Plewen 4 , aber im Sturm, noch dazu im Alleingang, dennoch nicht zu nehmen. Anders zu zweit, mit Masa.
Nach der erfolgten Aufklärung fühlte sich Fandorin zum ersten Mal seit einem Monat fast genesen, kehrte nach Hause zurück, schlief rund vier Stunden, und dann war es auch schon Zeit, ins Theater zu gehen. Er musste Masa vor Beginn der Probe erwischen, darum saß Erast Petrowitsch ab halb elf im Zuschauerraum, hinter einer Zeitung versteckt – ein ausgezeichneter Schutz vor dem leeren Geschwätz, dem Schauspieler so gern frönen. Es ist allgemein bekannt, dass Zeitunglesen, besonders, wenn man es mit konzentrierter Miene betreibt, der Umgebung Respekt einflößt und vor unerwünschten Kontakten schützt. Und Fandorin musste sich nicht einmal verstellen. Die Zeitung »Utro Rossii« 5 enthielt heute ein hochinteressantes Interview mit dem Minister für Handel und Industrie Timaschow über die hervorragende Finanz- und Devisenlage des Imperiums: Der Fonds frei verfügbarer Mittel aus Haushaltsüberschüssen betrug über 300 Millionen Rubel, der Kurs des russischen Rubels erstarkte von Tag zu Tag, und die energische Politik der Regierung würde Russland ohne Zweifel auf den Weg in eine lichte Zukunft führen. Fandorins Prognosen hinsichtlich der Zukunft Russlands waren weniger optimistisch, aber es wäre doch schön, wenn er sich irrte!
Hin und wieder schaute er zur Tür. Allmählich fand sich die Truppe ein. Alle trugen ihre Alltagskleider – nach den üblichen Regeln wurde im Bühnenbild, aber ohne Kostüm und Maske geprobt. Der geniale Noah Nojewitsch glaubte, das »entblöße« das Spiel des Schauspielers, mache Schnitzer und Fehler offenkundiger.
Die Klubnikina kam herein. Erast Petrowitsch senkte den Blick auf die Zeitung und erwartete, dass Masa hinter ihr auftauchen würde, aber er irrte sich – die Muntere erschien allein.
Also musste er noch einen weiteren Artikel lesen, über die historischen Ereignisse in China. Der vor einer Woche begonnene Aufstand eines einzigen Bataillons in der Provinzstadt Wuchang hatte bewirkt, dass sich Chinesen allerorten die Zöpfe abschnitten, sich nicht mehr der kaiserlichen Macht unterwerfen wollten und eine Republik forderten. Unglaublich, was für eine gewaltige Maschinerie dieser kleine Funken in Gang gesetzt hatte – 400 Millionen Menschen! Doch die Europäer schienen sich gar nicht bewusst zu sein, dass damit das große, verschlafene Asien erwacht war. Nun war es nicht mehr aufzuhalten. Es würde allmählich in Schwung kommen, immer stärker, und schließlich den ganzen Planeten überschwemmen. Die Welt würde nicht mehr weiß und, wie die Japaner sagten, »rundäugig« sein, sie würde gelb und ihre Augen würden schmaler werden. Das war wirklich spannend!
Er riss sich von der Zeitung los und versuchte sich das erwachte schwarzhaarige Asien im Bund mit dem aufgeklärten goldhaarigen Europa bildhaft vorzustellen. Und erstarrte. Herein kam, Arm in Arm mit Masa, Elisa. Sie lächelten sich an und flüsterten miteinander.
Raschelnd glitt die Zeitung von Fandorins Schoß.
»Guten Tag, meine Herrschaften«, grüßte die abscheulichste, schönste Frau der Welt. Dann entdeckte sie Fandorin und blickte ihn deutlich verlegen, ja, schüchtern an. Sie hatte nicht erwartet, ihm hier zu begegnen.
Masa dagegen schaute seinen Herrn mit unabhängiger Miene anund reckte stolz das Kinn. Unterm Arm trug er Zeitungen. Den Hang zur Lektüre der Presse hatte er erst kürzlich entwickelt – seit die Journalisten über die »asiatische Entdeckung« des Regisseurs Stern schrieben. Jetzt kaufte Masa gleich am frühen Morgen sämtliche Moskauer Zeitungen.
»Heute stehte nichts dlin. Sie schereiben nur, dass übehmorgen die zeweite Vorestellung ise«, sagte er und legte die Zeitungen auf den Regietisch. »Und dasse das Publikume volleh Ungeduld auf den eleneuten Tliumphe von Flau Lointaine und dem einzigahtigen Gasonow wahtet.« Er zeigte auf eine dick mit Rotstift umrandete winzige Notiz.
Einige Schauspieler traten näher, um zu sehen, ob nicht auch etwas über sie drinstand. Den
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