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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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gesehen.
    Ungefähr einen Monat bevor Nina verschwand, suchte ich in ihrem Zimmer nach einem Bleistift – zumindest sagte ich mir das als Rechtfertigung dafür, dass ich bei ihr herumschnüffelte. In den vergangenen Monaten war Nina nicht viel zu Hause gewesen und ich vermisste sie. Das Haus fühlte sich anders an, wenn sie nicht da war, irgendwie zu dunkel, egal, wie viele Lampen ich anknipste.
    Ich weiß noch, wie ich ihre Tür aufstieß und mich der Duft von Ingwer und Orangen begrüßte. Ihr Zimmer sah genauso aus wie immer, Jeans und Tanktops auf dem Bett und dem Boden verstreut, Haarfarbe auf der Kommode und überall Zeichnungen in verschiedenen Stadien der Vollendung: an den Wänden, auf dem Tisch, auf dem Boden, auf ihrem Bett, manche zerrissen, zerknüllt oder fein säuberlich gefaltet. Ich schaute auf eine Reihe Gesichter und fragte mich, ob diese Menschen nur in Ninas Kopf existierten oder
ob ihr Leben wirklich von einer Masse Menschen bevölkert war, die ich noch nie gesehen hatte.
    In einer Dose auf dem Tisch standen die Bleistifte. Ich nahm mir einen und erlaubte mir, mich noch einmal in ihrem Zimmer umzusehen. Auf dem Boden lag ein halb zusammengeknülltes Blatt Papier, das mit winziger Schrift bedeckt war. Ich stieß es mit dem Zeh an, in der Hoffnung, es werde sich »zufällig« auseinanderfalten und ich könnte es lesen. Ich ließ den Bleistift fallen, bückte mich nach ihm und sah mir dabei das Blatt genauer an. Es war über und über mit den Worten Ich liebe dich in blauer Kugelschreiberschrift bedeckt. Die Schrift war dunkel, der Schreiber hatte extra stark gedrückt und an einigen Stellen sogar das Papier zerrissen, um zu zeigen, dass er es ernst meinte. Ich starrte auf das Papier und versuchte, mir vorzustellen, wie es war, Nina zu sein. Von allen so geliebt zu werden, dass die Liebe einer einzelnen Person so unwichtig sein konnte. Dass man sie einfach auf den Boden warf. Es gab mir einen Stich. Ich war ein bisschen neidisch, aber nicht wirklich, und derjenige, der das geschrieben hatte, tat mir leid. Ich weiß noch, dass ich den Drang verspürte, den Brief aufzuheben, ihn zu glätten, mit in mein Zimmer zu nehmen und so zu tun, als seien die Worte ganz allein für mich bestimmt.
     
    In den folgenden sechs Stunden änderte sich das Panorama vor der Windschutzscheibe nicht: sechs rote Kreise, vier riesenhafte Räder, eine große Stoßstange aus Chrom. Es war, als würden wir uns gar nicht bewegen, außer dass es dunkel war, als wir losfuhren, und jetzt ist die Sonne aufgegangen
und verwandelt den Himmel in ein helles, frühmorgendliches Blau. Der Bus hat endlich angehalten, in einem Busbahnhof in einer Seitenstraße. Wir sind jetzt in Denver, Colorado.
    So wie Denver sehen Städte aus, die sich keine Sorgen darum machen müssen, dass ihnen der Platz ausgeht. Die Gebäude sind weit voneinander entfernt, die Straßen sind breit. Über uns wölbt sich ein endloser Himmel, der uns daran erinnert, dass es noch etwas anderes außer der Stadt gibt.
    Die Bustür öffnet sich und eine Reihe erschöpft und verschlafen aussehender Passagiere verlässt den Bus. Ein Mädchen, das nur ein paar Jahre älter ist als ich, steigt aus und holt seine schwere rote Sporttasche aus dem Berg von Gepäck auf dem Gehweg. Vor zwei Jahren hätte dies Nina sein können. Das Mädchen schaut sich um, als suche es jemanden und fürchte, es sei vergessen worden. Ich kann nicht aufhören, es anzustarren. Es kommt mir so vor, als schaue ich einen Film über die Vergangenheit, und dieses Mädchen spiele Nina. Sein Blick trifft mich, es lächelt mich an, und ich fühle mich auf merkwürdige Weise erleichtert, als bedeute es, dass es Nina gut ging, weil es diesem Mädchen gut geht. Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
    Ich denke, ich bin sooooo müde . Ich denke, vielleicht sollte ich mich hinlegen . Ich wende mich Sean zu, der mit halb geschlossenen Augen in seinem Sitz lehnt, die Hand auf dem Bauch. Ein Bild huscht durch meinen Kopf, wir beide gemeinsam in einem Bett, mein Kopf ruht an seiner Brust.
    Ich zwinge mich, wegzuschauen und mich auf das zu konzentrieren, was vor mir liegt. Was ich jetzt sehe, hat meine
Schwester vor zwei Jahren gesehen: diese breite Straße, hohe graue Steinhäuser, üppige, grüne Bäume. Ich steige aus dem Auto aus. Was fühlte sie, als sie die Bustreppe hinabstieg und diesen Gehweg betrat? Freude? Erleichterung? Aufregung? Trauer? Ich atme die frische Morgenluft ein und versuche, mir vorzustellen, ich

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