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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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sei Nina, die hier ankommt. Ich berühre mein Haar und stelle mir vor, es sei ozeanblau. Ich richte mich auf und lege den Kopf leicht zurück, wie Nina es immer getan hat. Ich schließe die Augen. Als ich sie aufmache, sehe ich eine schäbige Anschlagtafel auf einem Rasenstück ungefähr fünf Meter entfernt, genau im Blickfeld von allen, die den Bus verlassen. Ich laufe darauf zu. Sie ist mit bunten Flyern bedeckt: Werbung für ein billiges Hotel, für Restaurants und Cafés, Mietgesuche und Zimmerangebote. Im oberen Bereich sind einige Werbeposter dauerhaft hinter Glas. Rocky Mountain Tours – Erleben Sie Denver mit Leuten, die sich hier auskennen. Verschönert Denver – Besorg dir ein Tattoo bei Bijoux Ink, 2740 Colfax Avenue. Bijoux. Ich halte inne, strecke die Hand aus und berühre das dicke Glas.
    Bijoux. Wie in »Bijoux, wo biiiiiist du?« Ich weiß, dass es verrückt wirkt, aber plötzlich kann ich mir ganz genau vorstellen, wie das Ganze abgelaufen ist: Nina steht hier, neu in der Stadt nach einer fünfzehnstündigen Busfahrt, sie berührt das Schild, genau wie ich jetzt. In einer unbekannten Stadt mit unbekannten Menschen tröstete es sie. Sie sah es und dachte ja .
    Ich spüre, wie dieses Ja durch meinen Körper wirbelt, als käme es aus meinem Inneren. Vielleicht habe ich ja immer noch eine besondere Beziehung zu meiner Schwester. Vielleicht
überwindet unsere Verbindung ja diesmal Raum und Zeit und ich verstehe, was sie gedacht hat, auch wenn es mir sonst nur selten so ging.
    Oder vielleicht denke ich das auch nur, weil ich müde bin und halluziniere, weil ich so gerne möchte, dass es wahr ist.
    Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Kapitel 15

    Aber zuerst brauchen wir Schlaf. Sean und ich fahren zum nächsten Motel, einer heruntergekommenen Absteige, die Zimmer stundenweise vermietet. Jetzt stehen wir vor der Frau am Empfang, die Zimmerschlüssel baumeln an ihrem ausgestreckten Zeigefinger. »Und ihr zwei seid bestimmt schon achtzehn?« Sie zieht eine stark geschminkte Augenbraue hoch und nickt langsam.
    »Natürlich«, sagt Sean und nickt ebenfalls.
    »Okay, gut.« Sie reicht ihm den Schlüssel an einem weißen Plastikschlüsselanhänger. »Check-out ist morgen um zehn. Bis neun gibt es Frühstück.« Sie schaut Sean an, dann mich, dann wieder Sean. »Falls ihr bis dahin wach sein solltet.« Sie grinst, als wisse sie genau, warum wir hier sind und was wir vorhaben. Und obwohl sie sich da gründlich täuscht, werde ich rot.
    Wir gehen nach draußen und ein paar Betonstufen hinauf zu unserem Zimmer. Es riecht nach Schimmel und schlechtem Atem. Es gibt zwei Einzelbetten mit hässlichen geblümten Tagesdecken, zwischen denen ein angeschlagener Nachttisch steht. Über dem Nachttisch hängt ein gerahmtes Bild. Eine Ananas, von jemandem gemalt, der offenbar noch nie eine gesehen hat.

    »Endlich zu Hause, Schatz«, sagt Sean. Er zieht die Tagesdecke von einem Bett zurück und legt sich vollkommen angezogen hinein. Ich habe noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen, da höre ich ihn schon im Schlaf rhythmisch atmen. Ich schaue ihn an. Seine Lippen sind leicht geöffnet, sein Gesicht entspannt. Seine Wimpern liegen auf seinen Wangen. Mein Herz macht einen Hüpfer. Er sieht für mich jetzt irgendwie anders aus als gestern. Ich kann das nicht erklären und ich verstehe es auch nicht. Ich weiß nur, dass ich den ganzen Tag hier sitzen und ihn ansehen könnte. Aber stattdessen hole ich mir frische Kleider aus der Tasche, die ich gestern schnell noch gepackt habe, und zwinge mich, schlafen zu gehen. Und nach wenigen Minuten schlafe auch ich.

Kapitel 16

    Ich habe wieder den Traum, den ich kurz nach Ninas Verschwinden ständig geträumt habe. In dem Traum gehe ich zum dritten Schlafzimmer in unserer Wohnung und finde dort ein Mädchen, das an einem Schreibtisch sitzt. Ich frage, wie sie heißt und wie sie hier reingekommen ist. Was sie hier will. Aber das Mädchen antwortet nicht und lacht nur, als hätte ich einen Witz gemacht. Den sie sehr lustig findet. Und ich bin so merkwürdig stolz darauf, dass ich dieses fremde Mädchen zum Lachen gebracht habe, dass ich ihr nicht einmal sage, dass meine Fragen todernst gemeint waren.
    Wir schauen uns einen Moment lang an, dieses Mädchen und ich, und dann sagt sie: »Oh Belly.« Ich merke, dass das Mädchen Nina ist. Ihre Frisur ist anders als vor ihrem Verschwinden. Ihre Haare sind Fäden aus echtem Gold, und ich sage mir, dass ich sie wohl deshalb nicht erkannt

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