Mottentanz
Sean geteilt und Sean sei ein totaler Freak.«
Ich werfe Sean einen Blick zu. Er angelt sich gerade seinen Schuh.
»Ich glaube nicht, dass irgendein Mitglied von Helens Familie sich ein solches Urteil erlauben kann«, sage ich. Helen ist eine Freundin von Amandas Mom, die sich alle zwei Jahre zu Weihnachten eine neue Nase kauft. Im Klartext, sich operieren lässt.
»Ich meine es ernst. Eddie sagt, Sean hat in der Schule keine
Freunde und sitzt ständig alleine rum und starrt vor sich hin. Und außerdem hat er offenbar eine Freundin.«
»Was?« Das Wort entfährt mir geradezu. Mein Magen hebt sich.
»Ja, Eddie sagt, Sean hat ein gerahmtes Foto von einem Mädchen neben seinem Bett stehen und knutscht es jeden Abend vor dem Schlafengehen ab. Und er schreibt nachts mit einer Taschenlampe Briefe. Liebesbriefe.«
»Was soll ich jetzt dazu sagen? Ich glaube nicht, dass es stimmt und…« Ich mache eine Pause. »Was willst du von mir hören?«
»Dass du den Freak mit der Freundin sausen lässt und sofort nach Hause kommst.«
»Aber das werde ich nicht tun.«
»Ich kapier’s nicht. Was machst du denn in Nebraska?«
»Wir sind nicht mehr in Nebraska.«
»Wo dann?«
»Denver.«
» Denver? Warum solltest du in Denver sein?«
»Warum sollte ich nicht in Denver sein?«
»Ellie, du lernst nicht einfach einen Typen auf einer Party kennen, findest ihn süß und haust dann mit ihm nach Denver ab. Das passt überhaupt nicht zu dir. Hat er dich gekidnappt oder so? Falls ja, huste zweimal.«
Ich verdrehe die Augen. Wenn sie sich wirklich Sorgen machen würde, täte sie mir ja leid, aber sie klingt überhaupt nicht besorgt. Um ehrlich zu sein, klingt sie eher neidisch. Ich kann mir vorstellen, was sie jetzt denkt: Sie ist diejenige, die immer Dates hat, also sollte sie auch diejenige sein, die
spontan eine romantische Autotour mit einem süßen Typen macht, der sie auf einer Party abgeschleppt hat.
»Ich weigere mich, auf so einen Quatsch zu antworten«, sage ich. »Ich weiß eigentlich nicht mal, wieso du überhaupt anrufst.«
»Du weißt nicht, wieso ich anrufe? Äh, hallo, ich bin deine Freundin und ich mache mir Sorgen um dich. Komm doch nach Hause, Ellie. Ich habe einen neuen Freund, er heißt Adam. Adam hat einen Kumpel namens Cody, der wäre perfekt für dich. Komm einfach nach Hause.«
Sie sagt das im Befehlston. Als hätte sie das Recht, mir irgendwelche Befehle zu erteilen. Ich schüttele den Kopf.
Sean hat jetzt beide Schuhe an, steht auf und geht wieder ins Bad.
»Ich muss los«, sage ich.
»Aber Ellie, warte…«, sagt Amanda. Aber bevor sie ihren Satz beenden kann, lege ich auf.
Kapitel 17
Draußen ist es inzwischen heiß und in der Luft liegt eine geradezu manische Energie, als seien wir beide Blasen in einer Flüssigkeit, die gleich kochen wird. Sean läuft schnell und ich bin direkt hinter ihm. Wir laufen die Colfax Avenue entlang, wo wir hoffentlich Bijoux Ink finden werden.
Die Straße ist voll und wir weichen den anderen Passanten aus. Zwei Mädels laufen uns entgegen. Sie tragen dünne Sommerkleidchen, und da die Sonne hinter ihnen ist, sehe ich die Umrisse ihrer Beine und ihre schlanken Taillen. Als sie näher kommen, wird überdeutlich, dass sie keine BHs tragen. Die Linke isst ein rotes Stieleis wie in der Fotostrecke einer Männerzeitschrift. Sie flüstert ihrer Freundin etwas zu und deutet mit ihrem Eis auf Sean. Sie senkt den Blick, schaut auf ihr Eis, dann wieder auf Sean und hebt anerkennend die Augenbrauen. Beide Mädchen fangen an zu lachen. Mir schießt das Blut ins Gesicht. Ich starre auf Seans Hinterkopf, weil ich sehen will, ob er es bemerkt hat, aber ich kann es nicht erkennen.
»Sean?« Er dreht sich nicht um. Mein Telefon vibriert in meiner Tasche und ich schaue aufs Display. Amanda. Ich drücke Ignorieren. Sean ist stehen geblieben. Ein paar Meter
vor uns lehnt ein Typ an einer Ladenfront und raucht eine Zigarette. Schwarzes ärmelloses T-Shirt, Jeans, rasierter Schädel, flaumiger Ziegenbart, beide Arme von der Schulter bis zum Handgelenk mit grauschwarzen Tattoos bedeckt.
»Ich glaube, hier ist es«, sagt Sean. Er dreht sich zu mir um.
Wir betreten den Laden. Niemand nimmt Notiz von uns. Drinnen ist es laut, Punkmusik und das Surren der Klimaanlage. Von der Decke hängt ein riesiger Kronleuchter aus Gold und Kristall, den man eher in einer Hotellobby oder in einem Opernhaus erwarten würde. Zwei schwarze Ledersofas zu unserer Rechten sind vollgepackt mit Leuten, die in
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