Mozart - Sein Leben und Schaffen
ließen sich nun sämtliche Stufen aufbauen, wie diese Reproduktion in musikalische Produktion übergeht. In jene Art Produktion nämlich, die Spielen mit »tönend bewegten Formen« ist. Hier zeigt sich wieder die Verwandtschaft der Musik mit Mathematik. Alle Komposition ist in gewisser Hinsicht eine stete Permutation von Tonverbindungen. Diese Tatsache wird ganz offenbar, wenn man die alte kontrapunktische Polyphonie ansieht; wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, daß die künstlerische Mehrstimmigkeit überhaupt dadurch entstanden ist, daß man zu einer gegebenen Melodie andere Melodielinien so » punctus contra punctum « setzte, so kontrapunktierte, bis eine Gefallen erregende Gesamtheit entstand. Grundsätzlich gibt es unendliche Möglichkeiten dieser Gegenstellung von Tönen zu einer gegebenen Linie, und dieses Variieren eines Gegebenen bildet bezeichnenderweise nur in der Musik eine ergötzende Kunstform.
Ich wollte durch diese Ausführungen dartun, wie es kommt, daß auf dem Gebiete der Musik schöpferisch Wertvolles auch von Menschen geleistet werden kann, die noch keinen eigenen Lebensinhalt besitzen, die selber dem Leben erst als Aufnehmende gegenüberstehen. Darauf beruht das, was wir Wunderkindschaft in der Musik nennen, wobei allerdings jene Wunderkindschaft, die sich musikschöpferisch äußert, weniger häufig ist als die der Virtuosenhaften Reproduktion. Aber immerhin ist sie nicht so selten, daß nicht jedesZeitalter merkwürdige Beispiele dafür besäße. Dabei braucht die so entstehende Musik keineswegs bloßes Formspiel zu sein. Sie kann sehr gut Ausdrucksmusik sein, aber wohlverstanden Ausdruck eines typischen Empfindens, einer von den Kämpfen und Erfahrungen des Lebens noch unberührten, Empfindungsweise.
Der junge Mozart ist dafür das beste Beispiel. So wunderbar seine ganze Erscheinung ist, so ist es doch ganz selbstverständlich, daß auch ihm die Erfahrungen des Lebens erst in jenen Zeiten zuteil werden konnten, in denen die psychologischen und physiologischen Vorbedingungen dafür vorhanden waren. Er hat als Kind große Liebesszenen geschrieben, wo er nicht wissen konnte, was diese Liebe zwischen Mann und Weib bedeutet. Ja, es ist für die merkwürdige Entwicklung Mozarts sicher von höchster Bedeutung geworden, daß ihn nicht nur die sorgsame Hut des Elternhauses, sondern doch auch offenbar die eigene Veranlagung länger vor geschlechtlichen Wirrungen bewahrt hat, als das gerade bei Künstlern sonst die Regel ist. Jedenfalls ist der Zwanzigjährige in Mannheim eine in seltenem Maße nach der geschlechtlichen Seite hin unberührte Natur. Gerade das, was man vielleicht dagegen anführen könnte, die oft mehr als drastische Redeweise seiner Briefe, spricht für diese Unberührtheit; er weiß eigentlich da gar nicht, was er sagt. Nur so wirkte es damals und wirkt es noch heute für den genauer Zusehenden völlig harmlos. Auch das trotzige Jünglingsbewußtsein, das Verlangen nach Selbständigkeit, der Drang die eigene Persönlichkeit durchzusetzen, erwachte bei Mozart später, als man es sonst gewohnt ist. Das kommt so recht erst nach der Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres. Nun war gewiß auch danach seine Natur niemals das, was man als heldenhafte Persönlichkeit, als Tatmenschen bezeichnet; es fehlte ihm alles Titanische, Prometheische. Sein Wesen war Harmonie. Darin liegt ja der beglückende Zauber, den er auf uns ausübt. Auch er ist später in die Tiefen der Welt hinabgetaucht durch das Leid, das ihn zum Mitleiden erzog. Aber auch dann bezeichnenderweise so, daß dieses Leid nicht zur Zerrissenheit wurde. Auch jene Menschen, die er uns als Unglückliche vorführt, haben die Kräfte insich, zur Harmonie des Lebens zu gelangen. Immerhin wollen wir nicht vergessen, daß die geistige und seelische Entwicklung Mozarts noch lange nicht zu Ende war, als ihn der Tod fällte. Wie wächst dieser Mann als Mensch in seinen Briefen der späteren Zeit, obwohl diese als Ganzes viel rascher hingeworfen, viel gleichgültiger geschrieben sind als jene, die er an den Vater gerichtet hat. Aber in einzelnen Sätzen offenbart sich mit der Ruhe des Selbstverständlichen manchmal eine Größe des Empfindens, eine Weite der Auffassung, die zeigt, daß in diesem Menschen die höchste Fähigkeit tragischen Erlebens vorhanden war. Sie ist nicht zur Entwicklung gekommen. Das Schicksal hat ihm ein Ähnliches beschieden, wie er den Gestalten seiner Kunst. Selbst das Tragische verklärt sich
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