Mozart - Sein Leben und Schaffen
sich leicht vorstellen, daß Mozart höchstens von Einzelheiten in dieser Dichtung innerlich gepackt wurde. Dazu kamen dann die ungünstigen äußeren Umstände, von denen schon die Schnelligkeit der Arbeit Rochlitz zu seinem Urteil berechtigte: »Er sah sich gezwungen, da er kein Gott war, entweder ein ganz mittelmäßiges Werk zu liefern oder nur die Hauptsätze sehr gut, die minder interessanten ganz leichthin und bloß dem Zeitgeschmack des großen Haufens gemäß zu bearbeiten; er wählte mit Recht das letztere.« Dieses »letztere« trifft zunächst die Arien von Sextus und Vitellia. Die Unnatürlichkeit des äußeren Auftritts, daß eine in Mannskleider gesteckte Sängerin von rasender Leidenschaft für ein anderes Weib zu singen hatte, hat es wohl mit sich gebracht, daß Mozart die große Arie des Sextus mehr als ein Konzertstück und nicht eigentlich aus der gedachten Haltung der Oper heraus komponiert hat. Die Handlung gibt dann bloß mehr die allgemeine Grundlage. Auch die große Arie der Vitellia, als sie sich zum Entschluß der Aufopferung hindurchkämpft, ist mehr als Stück für sich behandelt, als solches aber von wunderbarer Schönheit. Neben diesen beiden Arien besitzt die Oper im Finale des ersten Aktes einen Teil, in dem sich auch der Dramatiker Mozart glänzend offenbart. Das begleitete Rezitativ, in dem Sextus sich in Selbstvorwürfen zerquält, leitet das Ganze bedeutsam ein. Durch das Hinzutreten von Annius, Servilia, dem Wachehauptmann Publius und Vitellia entwickelt sich nach Einzelgesängen ein Quintett, in das von fernher die wilden Rufe des Volkes (als unsichtbarer Chor) hineintönen. Nochmals ein kurzes Rezitativ des Sextus, dann endet das Ganze allem Herkommen entgegen in einem Andantesatz, der von dem Gefühl des Schmerzes,des Entsetzens über das furchtbare Verbrechen beherrscht ist. Die Solostimmen vereinigen sich hier mit dem näher herangekommenen Chore zu einem Gesamtbilde von tiefernster Schönheit. Im allgemeinen aber merkt man an jeder Stelle, daß Mozart für die Opera seria eine eigentliche Teilnahme nicht mehr aufbringen konnte, so daß ein Vergleich mit dem alten »Idomeneo« sehr zuungunsten des »Titus« ausfällt. Sogar die Ouvertüre des letzteren steht weit zurück, und die Art, wie das Orchester auf weite Stellen hin nur in der geringeren italienischen Art als Begleitungsinstrument wirkt, zeigt einen weiten Abstand gegen den unerschöpflichen Reichtum der älteren Partitur. Auch die Tatsache, daß Mozart die Sekkorezitative seinem Schüler Süßmayr überließ, findet durch die Schnelligkeit der Arbeit keine ausreichende Begründung, sondern bestätigt eine gewisse Gleichgültigkeit.
Aus alledem ergibt sich, daß man den »Titus« nicht zum Maßstab nehmen darf, wenn es gilt, Mozarts Befähigung für die Opera seria abzuschätzen. Wir stehen aber überhaupt hier, am Schlusse der Betrachtung der italienischen Opern Mozarts, vor der Frage, welche
Stellung in der italienischen Oper
ihm gebührt. Sieht man, daß von den zwanzig vollendeten dramatischen Werken, die Mozart uns hinterlassen hat, fünfzehn in italienischer Sprache geschaffen sind, so muß man äußerlich denen zustimmen, die ihn in erster Linie als »italienischen Opernkomponisten« betrachtet wissen wollen. Er stände da bei einer großen Zahl anderer deutscher Komponisten, unter denen sich auch Händel, Gluck und Mozarts Londoner Freund Christian Bach finden. Der Deutsche Hasse ist durch Jahrzehnte der anerkannte Führer der italienischen Oper gewesen, und auch zu Mozarts Lebzeiten haben manche deutsche Komponisten, man denke nur an Gottlieb Naumann, auf italienischen Bühnen ihren Platz behauptet. Ich halte trotzdem die Einstellung Mozarts in diese Reihe, obgleich sie neuerdings von dem so außerordentlich verdienstvollen Hermann Kretzschmar betont worden ist (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1905), für irreführend. Zunächstliegen elf von jenen fünfzehn Opern in der Zeit bis 1775, also vor Mozarts zwanzigstem Lebensjahr. Wenn man solchen Jugendarbeiten nachrühmen kann, daß sie das von anderen dargebotene technische Rüstzeug geschickt verwerten, so ist das etwas bereits ganz Außergewöhnliches; zu erwarten, daß in diesem Lebensalter jemand gar in der Dramatik, die doch Lebenserfahrung voraussetzt, irgendeine eigene persönliche Bedeutung einnehmen könnte, geht nicht an. Man kann also hier höchstens mit Kretzschmar feststellen, daß durch die äußeren Umstände Mozart der eben herrschenden
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