Mozarts letzte Arie
Vielleicht waren wir beide aus der Bahn geworfen worden, nachdem sich der beherrschende Polarstern unseres Lebens verdunkelt hatte. Auf jeden Fall waren meine Gefühle ziellos geworden. Für eine Weile hatte ich nur an meinen eigenen Verlust gedacht. Die Gefühle anderer waren mir gleichgültig gewesen.
«Sie haben völlig recht, Fräulein von Paradis», sagte ich. «Ein Konzert ist schwierig, aber nicht unmöglich.»
Sie ließ meine Hand los. Ich setzte mich neben dem Sofa auf einen Stuhl.
«Ich habe sechzig Konzerte auswendig gelernt», sagte Paradis, «aber ich würde sie sämtlich vergessen, bevor ich auch nur ein einziges von Wolfgang vernachlässigen würde.»
Ich schwieg.
«Was sagen Sie dazu?» Sie hob die Stimme.
«Ich stimme Ihnen zu», sagte ich. «Ich hielte es für eine schreckliche Belastung, irgendetwas von Wolfgang zu vernachlässigen.»
Paradis’ Augäpfel zuckten. «Ich wäre damit zufrieden, morgen Abend in der Akademie eine seiner Sonaten zu spielen.» Sie hob die Hand an ihr gepudertes Haar. Es war hochgesteckt und hinten locker in den Nacken gekämmt. «Ich entsinne mich, Ihrem Vater gesagt zu haben, dass er Sie nach Wien schicken soll.»
«Tatsächlich?»
«Während meines Aufenthalts in Salzburg haben Sie gespielt. Ihre Technik hat mich begeistert.»
Ich erinnerte mich genau an die Gelegenheit. Mein dreiundzwanzigster Geburtstag. Nachdem wir in der Nähe des Mirabelltors auf Zielscheiben geschossen hatten, hatte Wolfgang mir nachmittags Eis spendiert und abends Punsch serviert. Aber er war mit seiner jungen Braut zu Besuch gekommen, während ich bereits die Hoffnung aufgab, je verheiratet zu werden. Seine Fröhlichkeit hatte ich abgewehrt und so getan, als würde ich an dem Eis ersticken. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, so gut vor der Paradis gespielt zu haben, verbeugte mich jedoch dankend. «Danke für das Kompliment.»
«Ihr
Vater
hat es mir nicht gedankt. Er sagte, seine Tochter habe kein Interesse an Reisen und Auftritten.»
Ich presste meine Daumen zusammen. Mein Vater hattealles für mich entschieden, ganz so, wie er es auch mit Wolfgang versucht hatte. Aber nun war er schon lange tot.
«Nun sind Sie also schließlich doch noch hier in Wien», sagte Paradis. «Und haben morgen einen großen Auftritt.»
Ich sprach leise. «Hier bin ich.»
7
Auf dem Judenplatz gingen Advokaten und Kläger dem mächtigen Gebäude des Kanzleigerichts entgegen, in dem Magdalena Hofdemels Mann gearbeitet hatte. Im Morgenregen glänzte das rosafarbene Mauerwerk wie die verletzte Haut der armen Frau. Ich ging über den Platz zu den Privathäusern auf der Südseite.
Irgendwo vor mir wurde Klarinette gespielt. Eine Arie aus einer Komposition Wolfgangs. Mein Bruder hatte sie als Kabinettstück für die Virtuosität seines Freunds Stadler auf der Bassklarinette geschrieben. Während ich zuhörte, fiel die Melodie noch unter das E am Ende der Tonskala der meisten Klarinetten bis zum tiefen C. Das Instrument klang wie das Lied eines enormen Zaubervogels. Ich folgte dem Klarinettenklang zu einem schmalen Haus und stieg die Treppe hoch.
Auf mein Klopfen öffnete Stadler persönlich. Er trug einen braunen Gehrock und über den Schultern eine grobe Decke. In einer Hand hielt er seine Bassklarinette. Sein Finger drückte immer noch die Klappe des letzten Tons, den er soeben gespielt hatte.
Er machte einen Schritt zurück, zögerte, mich einzulassen, konnte mich aber auch nicht abweisen.
«Guten Morgen, Herr Stadler.» Ich ging an ihm vorbei und schnürte meinen Mantel auf.
«Den lassen Sie lieber an», murmelte er.
Ich neigte den Kopf zur Seite. «Wollen Sie damit sagen, dass ich wieder gehen soll, mein Herr?»
«Sie sind natürlich willkommen. Ich wollte nicht unhöflich sein», sagte er. «Ich meine nur, dass es hier drinnen etwas kalt ist. Das Dienstmädchen war krank und konnte in den letzten Tagen nicht kommen. Ich habe kein Feuer und –»
«Das macht nichts. Wir haben zu tun.»
Er schloss die Tür, stemmte sich dagegen und schob den Riegel vor, als befürchtete er, jemand könnte hinter mir in seine Räumlichkeiten eindringen.
«Haben Sie unsere Probe vergessen? Für meinen Auftritt heute Abend?», sagte ich. «Das Konzert?»
«Nein, natürlich nicht. Das C-Dur-Konzert.»
Ich lächelte. «Wo können wir …»
«Ich habe ein Clavichord im Arbeitszimmer. Bitte sehr.»
Er führte mich in einen Raum mit hoher Decke, von dem aus man das Kanzleigericht überblicken konnte. Die
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