Mozarts letzte Arie
Wände waren so gestrichen, dass sie wie weißer Marmor wirkten.
Ich schlug ein paar einfache Dreiklänge auf dem Clavichord an. Die Metalltangenten rissen die eisernen Saiten mit einem Ton an, der schärfer, spitzer war als die Hämmer des Klaviers, auf dem ich zu spielen gewohnt war. Die weißen Halbtontasten klangen gegenüber den schwarzen Tasten wie Eiszapfen. Das Instrument war jedoch sauber gestimmt.
Ich wärmte mir die Finger mit einer kurzen Tonleiter und spielte ein Menuett von Emanuel Bach.
Während ich spielte, trat Stadler näher ans Clavichord heran. Er setzte sich auf die Kante eines bestickten Stuhls und befingerte in der Erwartung, in die Musik einzustimmen, die Klappen seiner Klarinette.
Als ich fertig war, legte er ehrfürchtig eine Hand aufs Clavichord. «Wenn Sie den roten Anzug anhätten, den Wolfgang immer bei seinen Konzerten trug, wäre er wieder bei uns. Sie sehen aus wie er. Und Sie spielen auch wie er.»
In Stadlers tiefen braunen Augen erblickte ich seine Freude über mein Spiel. Doch schnell kehrte der Schmerz in sie zurück, als hätte er sich daran erinnert, dass mir trotz allem der rote Anzug gar nicht zustand.
«Dann lassen Sie uns das Konzert vornehmen.» Er nahm das Mundstück seines Instruments zwischen die Lippen. «Ich spiele den Orchesterpart, damit Sie Ihre Erinnerung an das Stück auffrischen können.»
Wir spielten den ersten Satz. Anfangs sah ich noch zu Stadler wegen einer aufmunternden Geste. Aber schon bald war ich ganz in der Musik versunken, in den munteren Klavierteil und die Melancholie der Holzbläser, die Stadler auf seiner Klarinette andeutete.
Wir beendeten den Satz. Stadler strich sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. «Gut. Genau das richtige Tempo. Viele Leute spielen es zu schnell. Jetzt zum Andante.»
«Wissen Sie, als mir mein Vater die Noten dieses Satzes geschickt hat, hatte ich das Gefühl, sie seien fehlerhaft kopiert worden.»
«Der ungewöhnliche Kontrapunkt?»
«Genau.»
«Wenn ich daran denke, wie Wolfgang ein Orchester beeinflussen konnte, uns anfeuerte und neue Horizonte entdecken ließ, ohne dass wir es recht merkten – tja, dann erkenne ich den Unterschied zwischen meinem Talent und seinem Genie.»
«Dieser Satz lässt mich an einen Traum denken.» Während ich redete, spielte ich die Melodie des Stücks. «Andante, Schritttempo also. Als würde man durch einen Traum schlafwandeln. Es gibt eine winzige Dissonanz. Aber er kehrt stets zu einem heiteren Ton zurück.»
Stadler schwenkte begeistert seine Klarinette. «So ist es. Wenn man im Bett liegt und träumt, ist man in Sicherheit.Schlafwandelnd weiß man jedoch nie genau, wo man sich befindet.»
«Wolfgang schenkt uns diese dissonanten Momente, als würde man uns aus dem sicheren, warmen Bett herausziehen.»
«Aber er führt uns in die auflösende Tonart zurück.»
«Zum Schlaf. Ruhig und erquickend.»
Stadler lächelte breit. «Sie haben es erfasst, in der Tat.»
Er setzte sein Instrument an die Lippen und begann mit dem Orchesterthema, das den Satz einleitet. Ich schloss die Augen für das Klaviersolo. Ich stellte mir vor, dass nicht ich es spielte. Ich lauschte Wolfgang.
Als wir fertig waren, rutschte Stadler auf seinem Schemel hin und her. «Ich erinnere mich noch, wie er dieses Stück erstmals gespielt hat. Das muss jetzt sechs Jahre her sein.»
Sechs Jahre, in denen ich meinen Bruder nicht mehr gesehen hatte, sechs Jahre, in denen er alle anderen Komponisten übertroffen hatte. Die letzten drei Jahre, in denen wir überhaupt keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Stadler wandte den Blick ab. Die Wärme unseres musikalischen Zusammenspiels war verflogen.
«Ich habe ihn nicht vergessen, Herr Stadler.»
«Natürlich nicht.»
«Ich hatte ja seine Musik, auch wenn ich ihn selbst nicht mehr hatte.»
Er tippte auf der Tastatur seiner Klarinette herum.
Wir spielten das Konzert noch einmal in voller Länge. Diesmal war er abgelenkt. Als die Musik vorbei war, starrte er meine Hände auf der Tastatur mit solcher Erregung an, dass ich sie hinter meinem Rücken verbarg.
Um Stadlers Blick auszuweichen, schaute ich aus dem Fenster. Einer Frau, die den Platz überquerte, riss der Wind die Haube vom Kopf. Das erinnerte mich an die Böe, dievorm Collaltopalais meinen Mantel ergriffen und an meiner Kapuze gezerrt hatte.
«Wer war der Herr, mit dem ich Sie gestern gesehen habe?», fragte ich.
Stadler legte sich die Klarinette auf die Knie. «Was?»
«Ein großer Herr. Ein
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