Mozarts letzte Arie
heißt Sallaba. Ich schätze seine Forschungen sehr.»
«War er es, der der Diagnose nicht zustimmte?»
«Ganz recht.»
Swieten war nicht der einzige unter Wolfgangs Freunden, der Zweifel an der Todesursache hegte. Während sich jedoch die anderen vor der Wahrheit fürchteten, ging der Baron ihr nach. Seine Zuneigung zu meinem Bruder und sein Glaube an die Gerechtigkeit zogen mich noch weit mehr an als die Feinfühligkeit, die er gestern Abend angesichts meiner Nervosität in der Akademie an den Tag gelegt hatte.
Er ging zu einer steinernen Wendeltreppe. Ich folgte ihm zu einer Galerie auf der zweiten Etage der Bücherregale. Hinter einer rosa Marmorbüste eines ehemaligen Kaisers mit wallender Perücke und leeren Augen wartete er auf mich. Unter uns herrschte Stille in der Bibliothek, abgesehen von Strafinger, der hin und her lief und Bücher von einem Wagen ins Regal zurückstellte.
«Anfang des Jahres, als Maestro Haydn zu einigen Konzerten nach London abreiste», flüsterte Swieten, «umarmte Wolfgang ihn und äußerte die Befürchtung, dass sie sich nie wieder sehen würden. Haydn ist nicht mehr der Jüngste. Ich nahm an, dass Wolfgang meinte, die Reisestrapazen oder der Londoner Regen könnten den alten Knaben umbringen. Jetzt glaube ich jedoch, dass ich seine Bemerkung falsch verstanden habe.»
«Sie glauben,
Wolfgang
ging davon aus, dass
er
sterben würde?»
Swieten umklammerte den Sockel der Büste so kräftig, dass seine Fingernägel weiß anliefen. Aus dem nächstliegenden Regal zog er einen schweren, in hellbraunes Leder gebundenen Folianten. Er blätterte in dem Buch, reichte es mir und tippte mit dem Finger auf die Seite.
«Acqua Toffana.»
Das Gift, von dem Wolfgang glaubte, dass man es ihm verabreicht hätte.
Der italienische Text beschrieb ein von einer sizilianischen Dame namens Signora Toffana im sechzehnten Jahrhundert gemischtes Gift. Sie verkaufte es an Frauen, die sich ihrer Männer entledigen wollten, ohne Spuren zu hinterlassen.
«Eine Mixtur aus Arsen, tödlichem Nachtschatten und Blei», sagte Swieten. «In Wasser aufgelöst, ist sie farblos und hat keinen Geschmack.»
Ich überflog die Seite. Die Symptome des Gifts waren Halluzinationen und Wahnvorstellungen, Erregungszustände und Todesahnungen, Magenschmerzen, Nierenversagen, Schwellungen und – ich erstarrte. «Hautausschläge.»
Swieten biss sich auf die Lippe. «Wolfgang zeigte sämtliche Symptome.»
«Wahnvorstellungen?»
«Er witterte überall Feinde. Als ich ihm vor nicht langer Zeit auf der Straße begegnete, hielt er sich einen Finger an den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen, und schaute sich um, als würde er von jemand Gefährlichem verfolgt.» Swieten nahm das Buch wieder an sich. «Aber vielleicht war es gar keine Wahnvorstellung.»
«In seinen Briefen an mich hat Wolfgang nie erwähnt, dass er sich bedroht fühlte.»
«In den letzten Jahren hat Wien sich verändert, Madame. Jahre, in denen – verzeihen Sie, wenn ich das erwähne – Sie und Wolfgang keinen Kontakt hatten. Wiener Künstler hatten die Freiheit, sich selbst auszudrücken. Man unterhielt sichohne Vorbehalte, sogar über Politik. Man konnte einander trauen.»
«Und jetzt?»
Am Ende der Galerie wurde eine Tür geöffnet. Ein Page in einem roten Wams trat heraus. «Das Mittagessen ist fertig, mein Herr», sagte er.
Swieten schob das Buch ins Regal zurück. «Heutzutage darf sich niemand mehr einen Fehler erlauben.»
Ich folgte ihm durch die Galerie. Als hinter mir der Page die Tür schloss, glaubte ich, in der Bibliothek Geflüster zu hören. Ich hielt inne, hörte jedoch nichts mehr. Es war wohl nur das Rascheln meiner Röcke an den Bücherregalen gewesen.
12
In der Wohnung des Barons lagen dicke ledergebundene Bände und Notenblätter auf dem Deckel des Clavichords. Ich warf einen Blick auf das Notenpapier, das auf dem Ständer über der Tastatur lag. Das Manuskript war unvollständig, mit vielen Korrekturen versehen, und darunter war der Titel
Der verlorene Meister
gekritzelt. Swieten griff nach den Blättern, schob sie zusammen und versteckte sie unter einem Traktat über ungarische Landwirtschaft.
«Ihre Eigenkomposition?», fragte ich.
«Ich wollte etwas darüber ausdrücken, was ich bei Wolfgangs Tod empfand», sagte er.
«Darf ich mal sehen?»
Er schüttelte den Kopf. «Es ist wie all meine Musik so steif wie ich selbst.»
Ich dachte an meinen Mann, wie er stumm und starr über seiner Buchhaltung saß. «Ich bin es
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