Mozarts letzte Arie
treten. «Sehen Sie, hier die Südspitze Italiens. Hier ist Serbien. Albanien. Griechenland.»
Die Karte war so lang wie mein Arm. Ihre unregelmäßigen Ränder waren vom Alter dunkel gebräunt. «Wie alt ist sie?»
«Sie wurde irgendwann um das fünfte Jahrhundert kopiert.»
Ich atmete den Geruch trockenen Schweißes, der von Pergament ausgeht.
«Ist sie nicht schön?», sagte er.
«Wahrlich.»
«Mehr als schön, in der Tat. Erstaunlich.» Er deutete zur Tür. «Lassen Sie mich Ihnen etwas anderes zeigen.»
An einem Schreibtisch im Hauptsaal der Bibliothek zog er eine flache, breite Schublade auf. «Als gebürtige Salzburgerin und Musikerin wird Ihnen das gefallen.»
Ich erblickte eine Seite mit primitiver Musiknotation; die Noten waren als Kreuze auf den roten Linien markiert. Unter der Musik befand sich ein lateinischer Text.
«Können Sie das lesen? Sehen Sie.» Der Baron sang die erste Zeile in einem gehauchten Bariton. «Eins der Privilegien des Bibliotheksdirektors besteht darin, dass ihm niemand befehlen kann, leise zu sein. Dies ist die Geschichte vom Tod des Heiligen Benedikt. Sie soll als Teil der kirchlichen Liturgie gesungen werden. Sie wurde vor sechshundert Jahren in Ihrer Heimatstadt kopiert.»
«Erstaunlich.»
Der Baron strahlte wie ein stolzer Vater. Gedankenverloren drehte er an einem Globus, der fast so groß wie ich war und auf dem die Konstellationen kartiert waren. «Erstaunlich, ja. Aber auch veraltet und für einen Musiker von heute ziemlich nutzlos.»
«Das denke ich auch.»
«Im Gegensatz zu Wolfgangs Musik. Er wird auch noch für Musiker, die in sechshundert Jahren geboren werden, höchst lebendig sein.»
Der Gedanke an Wolfgangs Werk schien den Baron mit Kraft zu erfüllen. Er breitete die Arme weit aus und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen die Trittleiter. Der Bibliothekar, der auf der obersten Sprosse stand, hielt sich an einer Säule fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Swieten schaute zu dem erschrockenen Mann hoch und ging dann weiter durch den Saal.
Unter dem großen Fresko der Zentralkuppel verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und blickte auf den polierten Marmorboden. «Hätte ich gewusst, dass Sie nach Wien kommen, hätte ich die Beisetzung verschieben lassen, Madame», sagte er.
«Sie müssen sich nicht entschuldigen, bitte. Soviel ich weiß, haben Sie die Zeremonie organisiert und bezahlt. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, mein Herr.»
«Sie kennen ja den üblichen Brauch – es war eine einfacheBeerdigung. Ein schlichtes Grab, das in zehn Jahren umgepflügt werden wird, um Platz zu schaffen.»
«Natürlich.»
«Es klingt vielleicht ein wenig unmenschlich», sagte er, «aber der Geist des Verstorbenen ist wichtiger als seine Knochen, finden Sie nicht auch?»
«Gewiss.»
Er verschränkte die Hände vor der Brust wie zum Gebet. «Ich möchte Sie wissen lassen, Madame, dass ich Wolfgangs Körper untersucht habe, bevor die Ärzte ihn für die Totenmesse in den Dom überführen ließen.»
Meine Finger wurden taub und kalt, als griffe aus Swietens Händen Wolfgangs Geist nach ihnen.
«Mein Vater war Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia», sagte Swieten. «Seit meiner Geburt war ich von Männern der Wissenschaft umgeben. Ich halte mich immer noch über die neusten Forschungsergebnisse auf dem Laufenden. Auch in der Medizin. Also habe ich einen Arzt konsultiert, dem ich vertraue. Ich sagte ihm, dass ich – Zweifel an der Todesursache Ihres Bruders habe.»
Mir war, als müsste ich vor Anspannung ersticken, als würden sich die Knochenstäbe meines Korsetts enger um meine Rippen legen. «Was hat er Ihnen gesagt?»
Der Baron blinzelte ins Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster schien. «Er stimmte mit der Diagnose, die Wolfgangs Arzt gestellt hatte, nicht überein.»
Ich wandte mich ab, um mir die Erregung und Anspannung auf meinem Gesicht nicht anmerken zu lassen. «Aber Wolfgangs Arzt hat einen Hautausschlag festgestellt, der auf ein Fieber als Todesursache schließen ließ.»
«Der gleiche Arzt hat Wolfgang zur Ader gelassen, um ihn zu kurieren, als lebten wir noch im Mittelalter. Er führte Wolfgangs Krankheit auf ein Übermaß an schwarzer Gallenflüssigkeitund Schleim zurück.» Der Baron schlug die Hände zusammen. «Der Mann ist ein Idiot.»
«Aber was hat meinen Bruder dann umgebracht?»
Swieten strich sich über den Nacken. «Der Arzt, den ich hinzugezogen habe, hat Wolfgang kurz vor dem Ende ebenfalls untersucht. Er
Weitere Kostenlose Bücher