Mozarts letzte Arie
Rätsel verstörte mich. Die Erwähnung von Reue gemahnte an die Botschaft, die Magdalena Hofdemel meinem Dienstmädchen im Gasthof hinterlassen hatte. Blindheit und Paradies erinnerten an Maria Theresia von Paradis, die brillante Pianistin. Genau wie die Töne, die wie ein Aufruhr aus dem Klavier stiegen. Doch bezog sich die letzte Anspielung – auf seine Gefährtin im Paradies, die nicht diejenige sein würde, die unser Vater ausgewählt hätte – auf Constanze. Papa hatte sich bis zum Schluss gegen sie gesträubt.
«Wolfgang war für mich immer zu klug», sagte Constanze. «Aber er hat mir gesagt, dass du seine Wortspiele verstehst, Nannerl. Kannst du das Rätsel lösen?»
Ich dachte über die Wendung
wie ein Bruder in den Hallen des Paradieses
nach. Sollte die Lösung im Namen einer Frau bestehen, die dazu auserkoren war, Wolfgangs
Grotte
als Mitglied der Freimaurer beizutreten?
Constanze stieß mich an. «Na?»
«Darüber muss ich in Ruhe nachdenken», sagte ich. «Aber ich werde die Antwort mit Sicherheit finden, Schwester.»
Ich fragte mich, ob der preußische Gesandte sich wegen des Rätsels am Schluss zum Kauf dieses Manuskripts entschieden hatte. Constanze hatte zweifellos recht – Wolfgang hatte mir das Rätsel gestellt. Er hatte die Sonate seiner «innig geliebten Schwester» gewidmet und diese Botschaft als ein Signal oder einen Schlüssel an den Schluss gesetzt.
Für was?
Ich erschauerte, wenn ich daran dachte, dass es etwas in Wolfgangs gefährlicher Arbeit geben könnte, von dem er gewusst hatte, dass er es bei seinem Tod unvollendet hinterließ. Hatte er beschlossen, dass ich es vollenden sollte?
«Na gut, dann denk drüber nach.» Constanze stand auf. «Ich setze all meine Hoffnungen darauf, dass du das Rätsel lösen kannst.»
Ich spürte ein Zupfen an meinem Rock. Karl kroch unter dem Klavier hervor. Er drückte mir einen weißen Lederball in die Hand und rannte zur Tür hinaus. Am Ende des Flurs stellte er sich hinter im Dreieck aufgestellten Kegeln in Positur.
«Er hat mit niemandem mehr gespielt, seit …» Constanze verstummte, hielt sich die Hand vor den Mund.
Ich holte zum Wurf aus. «Pass auf, Karlchen.»
Der Ball rollte über die Dielen in die neun Kegel. Er sprang hoch, und Karl fing ihn auf. Ein Kegel war stehen geblieben. Der Junge stieß ihn mit dem Fuß um und lachte, als ich meinen Erfolg bejubelte.
Das Mädchen rief zum Mittagessen. Constanze nahm mich bei der Hand und zog mich zur Tür.
«Jetzt wollen wir dich mal richtig füttern. In der Kirche wird es kalt sein», sagte sie.
Ich sah zu, wie Karl die Kegel wieder aufstellte. Ich wäre gern geblieben, um mit dem Kind zu spielen. Es war jetzt erst etwas über eine Woche her, seit ich mein Dorf verlassen hatte, aber ich vermisste sogar schon das arrogante Grinsen und die Ungezogenheit meiner Stiefkinder. Am meisten dachte ich an meinen Leopold, der fast genauso alt wie Karl war. «Kirche?»
«Nach dem Essen ist es Zeit, zur Totenmesse zu gehen», sagte Constanze.
Ich starrte sie verständnislos an.
«Für den armen Gieseke.»
«Ja, natürlich», murmelte ich. «Armer Gieseke.»
Karl drückte mir den Ball in die Hand.
29
Unter den kantigen mittelalterlichen Fresken am Portal der Michaelskirche erzählte Schikaneder vor einer Handvoll Trauergäste die Geschichte von Giesekes Tod. Er rieb an der Schulter seines schwarzen Gehrocks herum, als würde er sich das Blut abwischen, das während der Zugaben von der baumelnden Leiche des Schauspielers auf das Kostüm des Vogelfängers getropft war. Er blickte zum Altar mit den Schnitzereien auf die Erde stürzender Engel und zeichnete mit ausgestrecktem Arm den Sturz des toten Mannes auf die Bühne nach.
Constanze rief ihm zu. Er näherte sich ihr. Als er mich Arm in Arm mit der Witwe meines Bruders sah, zögerte er, aber es war zu spät, sich wieder seinem Publikum zuzuwenden.
«Meine liebe Constanze» sagte er. «Wir werden heute einige Passagen aus Wolfgangs Requiem singen. Für unseren Freund Gieseke, der während der Aufführung eines der vollkommensten Werke deines Mannes gestorben ist.»
«So soll es sein, Emanuel.» Constanzes Augen schimmerten im Kerzenschein.
Der Impresario verbeugte sich knapp vor mir. «Madame de Mozart.»
Ich beugte das Knie. «Herr Schikaneder.»
Er legte seine Hände um Constanzes knochiges Handgelenk. «Ich bin mir sicher, dass Wolfgangs Musik unseren lieben Gieseke getröstet hätte.»
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass den
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