Mozarts letzte Arie
ermordeten Schauspieler eine Erinnerung an meinen Bruder, dessen Todihn während seiner letzten Tage verfolgt hatte, beruhigt hätte. Zweifellos mussten Wolfgangs Arien, die zur Begeisterung des Publikums in den Zugaben wiederholt worden waren, Gieseke in den Ohren geklungen haben, als er im Theater ermordet worden war.
Schikaneder verbeugte sich noch einmal und nahm dann seinen Platz im Chor ein.
Constanze bekreuzigte sich und folgte ihm durch den Gang.
Ich wollte mich ihr anschließen, wurde jedoch von einem lauten Husten aus einer Ecke der Kirche abgelenkt. In der dem Heiligen Nikolaus geweihten Seitenkapelle kniete eine Frau vor einem hölzernen Kruzifix. Unter dem Schal zeichnete sich ihr schmaler Rücken ab. Sie zitterte in der ungeheizten Kirche.
Ich hielt sie für eine Arme von der Straße. Oder für ein Mädchen niedrigen Stands, das von Gieseke entehrt worden war und nun beklagte, dass er ihre Ehre durch Heirat niemals wieder herstellen würde. Doch als sie aufstand, bemerkte ich, dass der Stoff ihres Kleids teuer war.
Sie strauchelte, streckte den Arm aus und hielt sich am Altartuch fest. Sie fiel auf die Knie, die Hand immer noch an das bestickte Seidentuch geklammert, und riss das Kruzifix, das auf dem Altar stand, zu Boden. Zitternd, mit angezogenen Beinen und krampfhaft zuckenden Armen lag sie neben dem Kreuz.
Ich eilte ihr zur Hilfe.
Bevor ich die Kapellentreppe erreichte, half ein kleines, gedrungenes Dienstmädchen der gestürzten Frau auf die Beine. Unter dichten Augenbrauen warf sie mir einen mürrischen Blick zu. Ich erkannte sie als das Mädchen, das für Mademoiselle von Paradis arbeitete.
Hinter mir erklang die hochmütige Stimme der blinden Pianistin,für die widerhallende Kirche zu laut, für eine Beerdigung zu kräftig. «Gefällt Ihnen die Kapelle?»
Ich wandte mich nur halb um, da meine Aufmerksamkeit immer noch der zitternden Frau galt, die sich an den Altar lehnte. Die Augen der Paradis drehten sich wie Knöpfe in den Augenhöhlen einer Mädchenpuppe. «Die Kapelle?», sagte ich. «Sie ist sehr schön.»
«Sie wurde vor über vierhundert Jahren von einem königlichen Koch gestiftete.»
«Eine noble Geste.»
«Es war sein Dank an Gott für seinen Freispruch.»
«Er stand vor Gericht?»
«Wegen Giftmord.»
Ich hätte schwören können, dass die Augäpfel der Pianistin für einen Moment nicht mehr rollten, sondern sich wie die durchdringendsten Blicke aus Augen, die sehen können, auf mich richteten. Ihre Hand fuhr suchend durch die Luft, bis sie meinen Ellbogen traf. Sie zog mich zur Kapelle.
Ich bekreuzigte mich und beugte die Knie. Die Frau, die gestürzt war, zitterte jetzt auf einem Schemel neben dem Altar. Paradis streckte ihre freie Hand aus. Mit plötzlicher Sanftheit zog sie der Frau den schwarzen Schleier vom Gesicht.
Magdalena Hofdemel reckte das Kinn. Ihre Narben hoben sich grob von ihrer blassen Haut ab. Ihre Augenlider flatterten, und Wangen und Stirn zuckten.
«Warum betest du in dieser Kapelle, meine Kleine?», sagte Paradis zu ihr. «Die Totenmesse für Herrn Gieseke wird am Hauptaltar gelesen.» In gestochenem Italienisch befahl die Pianistin ihrem Dienstmädchen, einen wärmeren Umhang für ihre Freundin zu holen.
«Ich ergebe mich in mein Schicksal», sagte Magdalena. Sie kratzte sich heftig das Handgelenk, als ob der Juckreiz tiefunter der Haut saß. «Mein schreckliches Schicksal.» Ihre Stimme brach und konnte ihre Wunden ebenso wenig verbergen wie die auf ihren Wangen schimmernden tränennassen Narben.
Sie hob den Blick zu den flachen Bogenwinkeln der Kapellendecke. Ein Fresko des Jüngsten Gerichts erglühte dort rot und dunkelblau. Ich bedauerte das Mädchen und fürchtete, dass sie an der göttlichen Gnade zweifelte, die sie an jenem Jüngsten Tag erretten würde. Ich kniete mich neben sie und berührte ihre Wange. Sie zuckte zusammen, aber ihr Blick blieb auf das Fresko geheftet.
«Was bekümmert Sie so, meine Liebe?», sagte ich.
«Liegt das nicht auf der Hand?», sagte Paradis. «Ich kann die Narben auf ihrem Gesicht nicht sehen, aber ich habe sie gefühlt.»
«Ich meinte, warum sie einen Anfall bekommen hat.»
Paradis zischte, auf dass ich schweigen möge.
Das italienische Mädchen legte Magdalena Hofdemel ein dickes Wolltuch um die Schultern. Sie rieb sich die Haare auf ihrer dunklen Oberlippe.
Paradis schnippte mit den Fingern, und das Mädchen stellte sich neben sie. «Komm und lausche Wolfgangs Musik, Magdalena.» Sie sprach mit
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