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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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dachte er noch einmal darüber nach. »Obwohl ich mittlerweile bereit bin, eine Menge verrückte Scheiße zu glauben, an die ich früher keinen zweiten Gedanken verschwendet hätte.«
    Schweigend saßen sie nebeneinander.
    »Manchmal frage ich mich etwas«, sagte Connelly. »Ich frage mich, was er sieht, wenn er morgens die Augen aufmacht. Ob er den gleichen Ort sieht, den ich sehe. Oder ob er etwas ganz anderes sieht.«
    »Er ist kein Geist«, sagte Lottie. »Das haben Sie selbst gesagt.«
    »Das stimmt. Und ich glaube es noch immer. Als ich ihn zum ersten Mal sah, da hatte er Angst. Habe ich Ihnen das erzählt?«
    »Nein.«
    »Er hatte Angst. Als er … als er meine Tochter das erste Mal sah. Da hatte er Angst. Ich war dabei. Brachte sie zur Schule, so wie das jeder Vater tut, aber sie war in diesem Alter, wo sie zeigen wollte, was sie alles schon allein kann, wissen Sie, also ließ ich sie ein Stück vorausgehen. Und da sah ich ihn auf der anderen Straßenseite. Ein bleicher Kerl, der die Welt ansah, als würde sie ihm nichts bedeuten, als würde sie ihm gehören, mit diesem vernarbten Gesicht und einem Mund, der ihm bis zum Kiefergelenk reichte. Er betrachtete sie, und ich sah, wie sich plötzlich dieser Hunger auf seinem Gesicht abzeichnete, und dann sah er plötzlich verängstigt aus.«
    »Vor was hatte er denn Angst?«
    Connelly dachte darüber nach. »Ich glaube, vor mir.«
    »Warum sollte er vor Ihnen Angst haben?«
    »Ich weiß es nicht. Er sah mich an und war einfach verängstigt.«
    »Und als wir ihn zuletzt gesehen haben, schien er ebenfalls vor Ihnen Angst zu haben.«
    »Ich weiß. Aber ich kenne den Grund dafür nicht.«
    »Wie war sie? Ihre Tochter?«
    »Wie ihre Mutter. Zum Glück. Sie hatte blondes Haar, und sie war schlau. Richtig schlau. Mit fünf konnte sie jeden Vogel in unserem Garten mit Namen benennen. Behauptete, sie würden für sie tanzen, wenn ich nicht hinsähe. Vielleicht taten sie es ja. Ich weiß es nicht.«
    »Wo ist ihre Mutter?«
    »Zu Hause in Tennessee.«
    »Sie ließ Sie gehen?«
    »Ja. Ich war mir nicht einmal mehr darüber im Klaren, ob wir überhaupt noch verheiratet waren. Jedenfalls nicht so richtig. Eines Tages schien es, als hätten zwei Fremde unser Leben gestohlen, und das Einzige, was uns blieb, war, einfach nur noch durch das Haus zu gehen. Ich sagte, ich würde die Dinge wieder in Ordnung bringen. Ich würde losziehen, den Mann finden und die Dinge wieder in Ordnung bringen.«
    »Hat sie es verstanden?«
    »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«
    Eine Weile schwiegen sie.
    Schließlich sagte Lottie: »Was glauben Sie, wie spät ist es?«
    Connelly zuckte mit den Schultern.
    »Ich glaube, ich folge Hammonds Beispiel. Ich bin müde. Sie sollten das auch in Betracht ziehen. Sie sehen hundemüde aus.«
    »Das ist der Staub. Das ist alles.«
    »Wenn Sie es sagen.« Und sie ging.
    Connelly wartete, bis sie weit weg war. Dann griff er in die Tasche und holte seine Brieftasche hervor. Er klappte sie auf, griff behutsam mit dem Finger hinein und zog ein winziges, zusammengefaltetes Stück Papier heraus, das vor Alter glänzte. Er faltete es auseinander. An einigen Stellen war es so abgenutzt, dass es wie ein Stück Stoff aussah. Darauf war ein mit Holzkohle gezeichnetes Bild, das nicht unbedingt von großem Können zeugte. Ein Bild von einem Mädchengesicht, das lachte.
    Er hatte einen Mann auf einem Rummelplatz dafür bezahlt, ihr Porträt zu malen. Hatte es später im Wohnzimmer aufgehängt. Als dann das Leben vorbei gewesen und er gegangen war, war es das Einzige gewesen, das er mitgenommen hatte. Es war sein wertvollster Besitz, das Einzige, das ihn morgens aufstehen und den ganzen Tag laufen ließ.
    Er versuchte es mit Farbe zu füllen. Versuchte mit seiner Vorstellungskraft die Dinge hineinzuprojizieren, die der Zeichnung fehlten. Ihr neckisches Lächeln. Die Kätzchenzähne. Wie sie den Regen hasste und den Wind liebte. Und ihre Augen waren grün. Daran erinnerte er sich.
    »Deine Augen waren grün«, sagte er dem Bild. »Grün. Sie waren grün.«
    Er betrachtete es und ließ schweigend die Zeit verstreichen, dann faltete er es wieder zusammen und steckte es in die Brieftasche. Dann saß er einfach nur noch da.

ZEHN
    Am nächsten Morgen erstarb der Wind, und sie traten hinaus, obwohl der Staub noch immer in der Luft hing. Sie gingen durch die Stadt, aber die tonfarbene Trübung verhinderte, dass sie etwas sehen konnten. Keiner von ihnen betrat das Haus, in dem der

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