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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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seinem Mund. »Gestern«, keuchte er. »Erst gestern.«
    »Weiß jemand, wann der nächste Zug fährt?«, brüllte Monk die anderen Landstreicher an.
    »Warum seid ihr so gemein zu dem alten Bevis?«, krächzte einer der Hobos. »Er hat euch doch nichts getan.«
    »Weil er schlechte Manieren hat«, sagte Hammond. »Wann fährt der nächste Zug?«
    »In zwei Tagen. Schon in zwei Tagen. Ihr müsst deswegen nicht so gemein sein«, jammerte der Mann. Connelly sah, dass er wie ein kleines Kind weinte.
    »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, fragte Connelly, als Pike den Mann losließ. »Warum?«
    »Drauf geschissen, darum«, keuchte der Mann. Er wischte sich den Mund ab und starrte sie böse an. »Ich schneide euch die Kehle durch. Euch allen, ihr dummen Hurensöhne, ich schneide euch die Kehle durch.«
    Connelly sah ihn nur an, dann folgte er den anderen.
    In dieser Nacht konnte Connelly nicht schlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er Ernies in ein Leichentuch eingewickelten Körper nicht weit von sich liegen; rote und braune Flecken breiteten sich auf dem Laken aus. Manchmal saß dahinter eine andere Person auf dem Boden; sie war rot bemalt und krümmte sich verzerrt nach vorn, hielt sich den Leib.
    Schließlich resignierte Connelly und setzte sich auf. Er betrachtete die anderen, die um ihn herum lagen und deren Brust sich im Schlaf sachte hob und senkte. Dann sah er ein ganzes Stück weit entfernt eine Gestalt stehen, die eine Flamme in der Hand hielt. Sie sah ihn an und hielt einen Finger an die Lippen, und er blinzelte und erkannte, dass es sich um Pike handelte.
    Connelly stand so leise auf, wie er konnte, und ging zu dem alten Mann hinüber. Er stand weit draußen zwischen den Büschen, beobachtete die schlafende Gruppe und hielt einen glühenden Zweig vom Lagerfeuer in der Hand. Er blies darauf, bis er zu einem höllischen Funken angefacht war, den er dann an das Ende einer feuchten Zigarette hielt. Er nahm einen Zug.
    »Können Sie nicht schlafen?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Hm. Ich auch nicht.« Er seufzte. »Wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann ist es feuchter Tabak«, murmelte er aus dem Mundwinkel. Bei jedem Paffen blitzten seine grauschwarzen Zähne zwischen den Lippen auf, bevor sie hinter einer Wolke stinkenden Qualms verschwanden.
    »Wie ist er feucht geworden?«, fragte Connelly.
    »Roonie hat ihn neben seiner Feldflasche aufbewahrt. Der Mann ist ein Idiot.«
    »Er ist etwas daneben, ja.«
    »Er ist ein Idiot«, wiederholte Pike. Als er mit seiner Kippe zufrieden war, senkte er den Zweig und musterte die Gruppe erneut. »Sagen Sie, Mr. Connelly, was halten Sie von den Neuankömmlingen?«
    »Was ich von ihnen halte?«
    »Ja.«
    »Ich finde, sie sind in Ordnung.«
    »Tatsächlich?«
    »Nun, ja. Ich meine, man hat ihnen in den letzten paar Tagen ganz schön übel mitgespielt. So wie uns auch. Andererseits ist von uns keiner gestorben.«
    »Nein«, sagte Pike. »Ich schätze, das ist die wahre Prüfung eines jeden Mannes, nicht wahr? Ob seine Überzeugungen im Angesicht des Todes ins Schwanken geraten. Und wenn sie es tun, glaubt er dann wirklich an sie?«
    »Wir alle waren die Zeugen von Mord«, erwiderte Connelly. »Sonst wären wir nicht hier.«
    »Ja. Aber es besteht ein Unterschied, ob man zugesehen hat, wie jemand getötet wird, oder ob man dabei mitmacht.« Pike schüttelte den Kopf. Seine Augen bewegten sich nicht dabei, auf seinem Gesicht leuchtete noch immer der sanfte Schein des glühenden Zweigs in seiner Hand.
    »Sie mögen sie nicht«, sagte Connelly.
    »Ich vertraue ihnen nicht.«
    »Warum nicht?«
    Pike drehte den Zweig in seiner Hand nachdenklich um; seine Haut kam nie mit der Glut in Berührung. »Menschen«, sagte er angewidert. »Sie sind so schwach. Wissen Sie, wann ich das erste Mal den Tod gesehen habe? Wissen Sie das?«
    »Nein.«
    »Da war ich neun. Ich war Zeuge, wie mein Bruder von einem Maultier getreten wurde. Er war zwei Jahre älter als ich. Hat im Stall herumgealbert. Meine Mutter bestand auf einem offenen Sarg, sagte, wir müssten sein Gesicht sehen. Aber davon war nur noch wenig übrig. Ich erinnere mich daran.« Pike sah Connelly an. »Wissen Sie, warum er starb?«
    Connelly zuckte mit den Schultern.
    »Weil er schwach war«, sagte Pike. »Weil er ein Narr war. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Das weiß ich. Sie denken, der Junge war doch erst zwölf, also kann man ihn nicht für diesen Tod verantwortlich machen. Aber auch ich war einmal zwölf.

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