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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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können. Könnte ich noch immer.«
    »Einmal waren wir zu viele«, sagte ein grinsender Mann. »Wir saßen auf dem ganzen Zug verteilt wie Krähen auf der Telegrafenleitung. Der Schaffner warf einen Blick auf uns, seufzte und winkte den Zug durch. Wir jubelten ihm zu, als wir vorbeirasten, und ich glaube, es hat ihm gefallen.«
    Trotzdem wussten alle, dass sie jedes Mal ein Risiko eingingen, wenn sie die Schienen betraten. Es war schon gefährlich genug, ohne dass die Männer der Bahngesellschaft einen vom Zug warfen. Denn wenn man unglücklich von seinem Reittier fiel, fraß die stampfende Maschine nur zu gern einen Arm oder ein Bein oder gleich den ganzen Mann. Man nannte das »die Räder schmieren«.
    Connelly hatte Glück gehabt, und das war ihm durchaus bewusst. Er hatte ein paar Dollar im Hosensaum eingenäht für den Fall, sich jemals den Weg freikaufen zu müssen, aber er war noch nie verletzt worden, und man hatte ihn nur einmal erwischt, als er sich in einem mit Röhren beladenen Waggon verbarg. Er hatte in eine hineinkriechen können und war ganz friedlich gefahren, Arme und Beine in die Röhre gequetscht. Dann war plötzlich alles ganz hell geworden, und ein Mann mit einer Taschenlampe in der Hand hatte vor der Röhre gekniet. Er hatte ihn eine Weile lang angesehen, das Gesicht hinter dem Licht verborgen, und Connelly war vor Angst erstarrt. Dann war das Licht ausgeschaltet worden, und in der Dunkelheit hatte er am anderen Ende des Tunnels ein trauriges und mitleidiges Gesicht ausmachen können. Der Mann hatte mit der Taschenlampe nachdenklich gegen das Bein geklopft, dann hatte er sich wieder aufgerichtet und war gegangen. Als der Zug das Tempo verringert hatte, war Connelly herausgekrochen, abgesprungen und hatte nicht zurückgeblickt.
    Er hatte nie erfahren, warum ihn der Mann verschont hatte oder wer er überhaupt war. Er erzählte Roosevelt die Geschichte.
    »Er war schwach, das war er«, sagte Roosevelt. »Solche Männer sind selten, und es gibt immer weniger von ihnen. Wollen Sie mal was sehen?«
    »Klar.«
    Roosevelt führte ihn aus dem Wald zu einer Stelle, wo die Gleise völlig frei standen. Man hatte eine ganze Baumreihe gefällt und entwurzelt, um einen etwa dreißig Yard breiten Pfad zu schaffen. Er war so sauber und gerade wie ein von Menschenhand gefertigter Korridor, und die Schienen durchschnitten ihn wie ein Schiff einen Kanal.
    »Wir springen doch jetzt nicht auf, oder?«, fragte Connelly.
    Roosevelt lachte. »Sind Sie verrückt? Ich wollte Ihnen nur etwas zeigen.« Er ging neben den Schienen auf die Knie und berührte sie. Ein Teil davon war rostrot, andere Teile glänzten hell, wo die Zugräder sie sauber gescheuert hatten.
    »Sehen Sie das?«, fragte er.
    Connelly nickte.
    »Sind Sie sicher? Ich meine, haben Sie je richtig hingesehen?«
    Connelly zuckte mit den Schultern.
    »Das hier sind die Knochen dieses Landes. Wissen Sie, wie viele Menschen bei ihrem Bau gestorben sind?«
    »Nein.«
    »Mehr als hunderttausend. Vielleicht sogar zweihunderttausend. Ab dem ersten in den Boden geschlagenen Nagel sind Menschen gestorben. Um die Knochen dieses Landes zu legen. Männer sterben noch immer dafür. Jetzt, in diesem Augenblick. Wussten Sie das?«
    »Nein.«
    »Das tun sie. Immer wenn jemand auf dem Güterbahnhof einen Unfall hat. Wenn jemand mitgeschleift wird, wenn etwas nicht korrekt geladen ist. Wenn ein Hobo wie wir sein Reittier schlecht behandelt und zerkaut wird wie eine Puppe im Katzenmaul. Dann werden die Schienen geschmiert. Aber wissen Sie, irgendetwas muss man opfern. Zum ersten Mal in der Geschichte kann man von einem Ozean zum anderen reisen. Das alles hier ist ein großes … ein großes Bauwerk«, kam Roosevelt zum Schluss. »Und wir sind nur ein Teil davon, wenn überhaupt. Wissen Sie, als Kind hat mir eine ganze Horde verschiedener Prediger die Ohren vollgebrüllt, doch ich hatte nie viel für Religion oder Gott übrig. Aber wenn ich ehrlich sein soll, dann würde ich sagen, dass die Eisenbahn wie Gott ist. Für viele von uns ist sie Gott. Bringt Arbeit, lässt einen reisen. Bringt die Zukunft und bringt unsere geliebten Menschen zu uns. Und sie bringt den Tod. Und das oft. Vielleicht gehört das ja dazu. Vielleicht muss man sie füttern. Mit einem klein wenig mehr als Kohle.«
    Roosevelt stand auf und klopfte sich die Hände ab. Sein Blick folgte der Schienenspur, die sich ihren breiten Korridor durch den Wald schnitt. »Daran merkt man, dass man an etwas glaubt«,

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