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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Und ich überlebte. Welcher Unterschied besteht zwischen ihm und mir? Der Grad an Dummheit? Vielleicht sind auch die, die weiterleben, von Gott gesegnet. Ich glaube, es könnte beides zutreffen. Sie müssen wissen, wir alle sind Seine Soldaten. Ich glaube, dass Er uns jederzeit retten kann. Falls wir zaudern und stürzen, dann ist das allein unsere Schuld und keineswegs die eines anderen.«
    »Daran glauben Sie?«
    »Ja.« Pike schüttelte wieder den Kopf. »Die Menschheit. Die Menschheit ist kraftlos. Ausgeliefert der Lust und dem Hunger und der Gier. Und der Feigheit. Ich habe es in meinen Wanderjahren erlebt. Selbst wenn ich vor meiner Herde predigte, hasste ich sie. Denn die Menschen weinten oder erzitterten oder vergaßen schon nach wenigen Augenblicken meine Predigt. Manchmal ging ich zu ihnen, um zu sehen, ob sie zugehört hatten. Und wie fand ich sie vor? In ihrem Augenblick der Schwäche. Getrieben von ihren fleischlichen Gelüsten. Schwach und sinnlos. Wenn ich sie so vorfand, ließ ich nicht zu, dass sie mich vergaßen. Nein, Sir. Nein, das tat ich nicht.« Er spuckte aus. »Heute weiß ich, dass meine Jahre des Predigens an sie verschwendet waren. Sie waren die Weisheit nicht wert, die ich ihnen zu geben hatte. Aber die Ankunft dieser neuen Leute … sie beunruhigt mich. Ich mache mir Sorgen, dass ich vergessen habe, wie schwach der Mensch sein kann. Dass sie dann verzagen, wenn wir sie am nötigsten brauchen. Ich sage Ihnen das, Mr. Connelly, weil ich weiß, dass wir uns irgendwie ähneln. Sie sind stark. Und damit meine ich nicht stark im Arm, auch wenn ich deutlich sehe, dass Sie das sind. Sondern im Geist. Sie sind stärker als diese neue Gruppe. Vielleicht sogar stärker als Hammond oder Roosevelt. Vielleicht sogar stärker als ich.«
    »Das würde ich so nicht sagen«, meinte Connelly.
    »Nein. Aber ich sorge mich um Sie. Wir verrichten hier Gottes Werk. Das weiß ich. Sie und ich sind große Werkzeuge in Seinem Plan. Werden Sie nicht schwach. Wir müssen für alle Ewigkeit messerscharf bleiben. Für alle Ewigkeit hart bleiben. Vergessen Sie das nicht.« Dann ließ Pike den Zweig fallen und trat ihn mit der Schuhspitze in den Boden. Er rauchte und knisterte, dann roch es nach verbranntem Leder. Pike ging zurück zum Feuer und legte sich hin.
    Connelly beobachtete ihn noch eine Weile. Innerhalb weniger Augenblicke war der alte Mann eingeschlafen. Connelly wartete und kehrte dann zu seiner eigenen Decke zurück, aber der Schlaf wollte nicht kommen.
    Sie verbrachten die nächsten Tage in dem Hobolager außerhalb des Güterbahnhofs und warteten. Wanderarbeiter aus allen Teilen des Landes gesellten sich zu ihnen, alte und junge Männer, verzweifelte und aufgeregte. Einige waren fast noch Kinder, andere reisten mit ihren jungen Familien. Manche klammerten sich an die Vorstellung, dass die Wanderschaft ihre einzige Rettung darstellte. Die Kinder lächelten trotz ihres Hungers und träumten davon, sich im Horizont zu verbeißen, träumten davon, wie sich die großen Eisenmaschinen mit ihren Rädern in den Boden fraßen, träumten von Freiheit.
    Jemand im Lager erzählte, dass dieser Bahnhof hier als hart galt, und Connelly hörte genau zu. Gerüchten zufolge war die Linie, auf die sie aufspringen wollten, sehr heikel; brutale Bahnbullen, die keine Hobos tolerierten. Man sprach von Männern, die weggezerrt und im Wald zusammengeschlagen wurden, flüsterte, dass man sie unter die Waggons gestoßen und von den Rädern in zwei Hälften geteilt hatte. Andere hielten das alles nur für Gerüchte. Allerdings stimmten alle darin überein, dass die Bahnbullen einen beraubten. Es war üblich, dass sie die Männer zusammentrieben, sie sich in einer Reihe aufstellen ließen und ihnen jeden Penny abnahmen, den sie besaßen. Jeder Passagier müsse bezahlen, würden die Bullen sagen. Manchmal zahlten sie den üblichen Fahrpreis. Manchmal zahlten sie auch mehr.
    »Ich erinnere mich an das eine Mal, als ein Eisenbahner uns alle vom Zug holte«, erzählte ein alter Mann. »Hatte einen Revolver und einen Knüppel. Sagte uns, der Fahrpreis wäre die Hälfte von all dem, was wir dabeihätten. Mir war das egal, ich hatte kaum einen Dollar, aber da war dieser arme Kerl, der lange gearbeitet und fast fünfzig Dollar gespart hatte. Der verdammte Eisenbahner hatte an diesem Tag Glück. Nahm lächelnd das Geld, befahl uns zu verschwinden, oder er würde uns in den Knast werfen. Lachte, als wir fortliefen. Ich hätte ihn umbringen

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