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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wenn ich das mache, ist er endgültig verschwunden.»
    Plötzlich stand sie auf und verließ den Tisch. Sie sagte nicht, wo sie hinwollte, und ich fragte nicht. Das Gespräch hatte für uns beide eine so düstere, so entsetzliche Wendung genommen – ein Wort mehr, und wir wären durchgedreht. Ich schob die Pistole in den Halfter zurück und sah auf die Uhr. Ein Uhr. Bis zu meiner Verabredung mit Dixie war noch reichlich Zeit. Vielleicht würde Mrs. Witherspoon zurückkommen, vielleicht auch nicht. So oder so, ich wollte bleiben, meinen Lunch verspeisen und danach zum Royal Park Hotel spazieren, und dort wollte ich mir die seidigen Beine meiner neuen Flamme um die Hüften wickeln und ein Stündchen mit ihr auf dem Bett rumturnen.
    Aber Mrs. W. hatte sich nicht aus dem Staub gemacht. Sie war bloß auf die Toilette gegangen, um ihre Tränen zu trocknen und sich frisch zu machen, und als sie ungefähr zehn Minuten später zurückkam, hatte sie neuen Lippenstift aufgelegt und ihre Wimpern wieder in Ordnung gebracht. Ihre Augen waren noch immer gerötet, aber als sie sich setzte, warf sie mir ein kleines Lächeln zu, und ich merkte, dass sie entschlossen war, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
    «Also, mein Freund», sagte sie und nahm einen Bissen von ihrem Shrimps-Cocktail, «was macht die Fliegerei heutzutage?»
    «Weggepackt und eingemottet», sagte ich. «Das Geschwader hat Startverbot und landet nach und nach beim Schrotthändler.»
    «Und es reizt dich nicht, es noch einmal auszuprobieren?»
    «Nicht um alles in der Welt.»
    «So schlimm waren die Kopfschmerzen?»
    «Schlimm? Sie wissen ja gar nicht, was das bedeutet, gute Frau. Wir reden hier von einem ausgewachsenen Trauma, von lebensbedrohlichen Kurzschlüssen im Hirn.»
    «Es ist schon komisch. Manchmal bekomme ich Unterhaltungen mit, abgerissene Bemerkungen im Zug oder auf der Straße. Die Leute haben dich nicht vergessen, Walt. Der Wunderknabe hat ziemliches Aufsehen erregt, und viele denken noch immer an dich.»
    «Ja, ich weiß. Ich bin eine verdammte Legende. Bloß dass es keiner mehr glaubt. Als die Sache geplatzt war, haben die Leute aufgehört, dran zu glauben, und jetzt ist keiner mehr übrig. Ich kenne dieses Gerede. Hab’s selber oft genug gehört. Lief immer auf Streit hinaus. Einer sagt, es war alles Betrug, der andere sagt, vielleicht war’s auch keiner, und bald haben sie sich so in der Wolle, dass sie gar nichts mehr sagen. Aber das ist schon eine Weile her. Heute hört man nicht mehr viel davon. Es ist, als ob das alles nie passiert wär.»
    «Vor zwei Jahren ungefähr stand irgendwo ein Artikel über dich, ich weiß nicht mehr, in welcher Zeitung. Walt der Wunderknabe, der kleine Mann, der die Phantasie von Millionen beflügelte. Was ist mit ihm, wo steckt er jetzt? So ungefähr hieß es da.»
    «Er ist vom Erdboden verschwunden, das ist mit ihm. Die Engel haben ihn dorthin zurückgebracht, wo er hergekommen ist, und kein Mensch wird ihn je wiedersehen.»
    «Außer mir.»
    «Außer Ihnen. Aber das bleibt unser kleines Geheimnis, ja?»
    «Ich bin verschwiegen, Walt. Wofür hältst du mich eigentlich?»
    Danach wurden wir immer gelöster. Der Hilfskellner räumte die Vorspeisenteller ab, und als der Kellner mit dem Hauptgericht kam, hatten wir die erste Flasche leer und bestellten die zweite.
    «Wie ich sehe, haben Sie noch immer Geschmack an dem Zeug», sagte ich.
    «Alkohol, Geld und Sex. Das sind die ewigen Wahrheiten.»
    «In dieser Reihenfolge?»
    «In jeder beliebigen. Ohne die drei wäre die Welt ein trauriger und trostloser Ort.»
    «Apropos traurige Orte: Was gibt’s Neues in Wichita?»
    «Wichita?» Sie stellte ihr Glas ab und grinste herrlich blasiert. «Wo ist das?»
    «Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.»
    «Kann mich nicht erinnern. Ich habe vor fünf Jahren meine Sachen gepackt und seitdem keinen Fuß mehr in diese Stadt gesetzt.»
    «Wer hat das Haus gekauft?»
    «Ich habe es nicht verkauft. Billy Bigelow wohnt dort mit seiner klatschsüchtigen Frau und zwei Töchtern. Eigentlich wollte ich mir mit der Miete ein hübsches Taschengeld verdienen, aber der arme Kerl hat einen Monat nach dem Einzug seinen Job bei der Bank verloren, und seitdem lass ich ihn für einen Dollar im Jahr dort wohnen.»
    «Wenn Sie sich das leisten können, muss es Ihnen ja gutgehen.»
    «Ich bin im Sommer vor dem Börsenkrach aus dem Markt ausgestiegen. Hatte was mit Lösegeldforderungen, Geldübergaben und toten Briefkästen zu tun –

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