Mr. Vertigo
erblickte jemand, mit dem ich hier nun wirklich nie gerechnet hätte. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Es war Mrs. Witherspoon: Die Arme voller Pakete, so hübsch und elegant herausgeputzt wie eh und je, rannte sie mit hundertfünfzig Sachen auf ein Taxi zu. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und bevor ich irgendwas sagen konnte, sah sie auf, warf einen kurzen Blick in meine Richtung und erstarrte. Ich lächelte. Ich grinste von einem Ohr zum andern, und was dann kam, war eine der erstaunlichsten Slapstick-Szenen, die ich je erlebt habe. Ihr klappte tatsächlich die Kinnlade runter, die Pakete fielen ihr aus den Händen und polterten über den Bürgersteig, und eine Sekunde später warf sie mir die Arme um den Hals und bepflasterte meine frisch rasierte Visage mit ihrem Lippenstift.
«Hab ich dich endlich, du Schlingel», sagte sie und drückte mich wie verrückt. «Das wurde aber auch Zeit, du verdammter alter Gauner. Wo zum Teufel hast du nur gesteckt, Jungchen?»
«Hier und da», sagte ich. «Immer auf Achse. Mal oben, mal unten, die übliche Geschichte. Gut sehen Sie aus, Mrs. Witherspoon. Wirklich großartig. Oder muss ich Mrs. Cox zu Ihnen sagen? So heißen Sie doch jetzt, oder? Mrs. Orville Cox.»
Sie trat, ohne mich loszulassen, einen Schritt zurück, um mich besser betrachten zu können, und ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Immer noch Witherspoon, mein Lieber. Bis zum Altar habe ich es noch geschafft, aber als ich dann ‹ja› sagen sollte, blieb mir das Wort im Hals stecken. Aus dem Ja wurde ein Nein, und jetzt, sieben Jahre danach, bin ich noch immer ledig und stolz darauf.»
«Gratuliere. Ich hab immer gewusst, dass dieser Cox ein Fehlgriff war.»
«Wenn dieses Geschenk nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht nein gesagt. Als Billy Bigelow mir das Paket aus Cape Cod mitbrachte, konnte ich nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Eigentlich soll eine Braut die Geschenke ja nicht vor der Hochzeit auspacken, aber das hier war ein Sonderfall, und als ich es ausgewickelt hatte, wusste ich, dass aus der Hochzeit nichts werden würde.»
«Was war denn in der Schachtel?»
«Das weißt du nicht?»
«Ich bin nicht dazu gekommen, ihn zu fragen.»
«Ein Globus. Eine Weltkugel.»
«Ein Globus? Was soll daran so besonders sein?»
«Das Besondere war nicht das Geschenk, Walt. Sondern der Brief, der dabeilag.»
«Auch den habe ich nicht zu Gesicht bekommen.»
«Ein einziger Satz, sonst nichts. Wo auch immer Du bist, ich werde bei Dir sein. Als ich das gelesen hatte, war’s aus. Es gab nur einen Mann für mich, Herzblatt. Und wenn ich den nicht haben konnte, wollte ich mich nicht mit irgendwelchen Ersatzleuten oder billigen Nachahmungen abgeben.»
Da stand sie im Gewühl der Menge und dachte an diesen Brief. Die Krempe ihres grünen Filzhutes flatterte im Wind, und nach einer Weile traten ihr die Tränen in die Augen. Bevor sie richtig losheulen konnte, bückte ich mich und sammelte ihre Pakete ein. «Kommen Sie mit rein, Mrs. W.», sagte ich. «Ich spendiere Ihnen ein Essen, und dann machen wir ein Fass Chianti auf und gießen uns einen auf die Nase.»
Ich gab dem Oberkellner am Eingang einen Zehner und sagte ihm, dass wir ungestört sein wollten. Als er mir achselzuckend erklärte, alle separaten Tische seien reserviert, zog ich noch einen Zehner aus meinem Bündel. Das reichte, denn auf einmal war ein Tisch frei, und keine Minute später führte uns eine seiner Schranzen durchs Restaurant zu einer gemütlichen Nische im Hintergrund, wo wir bei Kerzenschein und von roten Samtvorhängen vor den anderen Gästen abgeschirmt sitzen konnten. Ich hätte an diesem Tag alles getan, um Mrs. Witherspoon zu beeindrucken, und ich werde sie wohl kaum enttäuscht haben. Als wir uns niederließen, sah ich ihre Augen amüsiert aufleuchten, und als ich, um ihre Chesterfield anzuzünden, mein goldenes Feuerzeug mit Monogramm hervorzauberte, schien ihr plötzlich aufzugehen, dass der kleine Walt gar nicht mehr so klein war.
«Uns scheint es ja ganz gutzugehen, wie?», sagte sie.
«Nicht übel», sagte ich. «Seit Sie mich das letzte Mal gesehen haben, bin ich ziemlich vorangekommen.»
In den ersten Minuten tasteten wir einander ab und sprachen über dies und das, aber bald hatten wir jede Befangenheit abgelegt, und als der Kellner mit den Speisekarten kam, redeten wir schon von den alten Zeiten. Wie sich herausstellte, wusste Mrs. Witherspoon viel mehr von meinen letzten
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