Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
in Aschenbechern und nicht auf dem Fußboden ausgedrückt wurden. Meine Lochstreifenempfänger waren das Allerneueste an moderner Ausrüstung, mit Schaltungen zu jeder wichtigen Rennbahn im ganzen Land, und die Bullen hielt ich mir mit regelmäßigen Spenden an die privaten Pensionskassen eines halben Dutzends Polizisten vom Leib. Ich war einundzwanzig Jahre alt und in jeder Hinsicht versorgt. Ich wohnte in einem schicken Zimmer im Featherstone Hotel, ich hatte einen Schrank voller Anzüge, die mir ein italienischer Schneider zum halben Preis gemacht hatte, und wann immer ich Lust hatte, konnte ich mir nachmittags in Wrigley ein Spiel der Cubs ansehen. Das alles war schon prima, aber das Beste waren die Frauen, jede Menge Frauen, und ich gab meinem Ding da unten wahrlich genug zu tun. Seit ich sieben Jahre zuvor in Philadelphia vor dieser schrecklichen Entscheidung gestanden hatte, waren mir meine Eier außerordentlich teuer geworden. Ihnen zuliebe hatte ich auf Ruhm und Reichtum verzichtet, und jetzt, wo Walt der Wunderknabe gestorben war, glaubte ich meine Entscheidung am besten damit zu rechtfertigen, dass ich sie so oft wie möglich zum Einsatz brachte. Ich war schon keine Jungfrau mehr, als ich nach Chicago kam, aber richtig los ging meine Karriere als Verkehrsexperte erst, als ich mich Bingo anschloss und genügend Geld hatte, um mich an jede Mieze ranzumachen, die ich haben wollte. Meine Unschuld hatte ich irgendwo im Westen von Pennsylvania an ein Bauernmädchen namens Velma Childe verloren, aber das war eine ziemlich jämmerliche Angelegenheit gewesen: Gefummel in einer kalten Scheune, ohne uns auszuziehen, die Gesichter voller Speichel, und dann eine Stümperei, bei der wir beide nicht so recht wussten, wo was hingehörte. Einige Monate später konnte ich dank der hundert Dollar, die ich in Minneapolis gefunden hatte, ein paar Erfahrungen bei Huren sammeln, trotzdem war ich, als ich in die Stadt der Schlachthöfe kam, im Grunde noch immer ein blutiger Anfänger. Aber sobald ich mich dort eingelebt hatte, gab ich mir alle Mühe, die verlorene Zeit aufzuholen.
    So war das damals. Die Organisation wurde meine neue Heimat, und ich hatte nie die geringsten Gewissensbisse, mit den bösen Jungs gemeinsame Sache zu machen. Ich sah mich als einen von ihnen, ich teilte ihre Ansichten, und von meiner Vergangenheit erzählte ich keinem ein Sterbenswörtchen: weder Bingo noch den Mädchen, mit denen ich schlief, noch sonst wem. Solange ich nicht den alten Zeiten nachheulte, konnte ich mir vormachen, ich hätte eine Zukunft. Da der Blick zurück schmerzlich war, schaute ich stur nach vorn und entfernte mich mit jedem Schritt ein Stück weiter von dem Menschen, der ich bei Meister Yehudi gewesen war. Mein Bestes lag mit ihm in der kalifornischen Wüste. Dort hatte ich ihn begraben, zusammen mit seinem Spinoza, seinem Sammelalbum mit Zeitungsausschnitten über Walt den Wunderknaben und dem Halsband mit meiner abgetrennten Fingerspitze, und obwohl ich jede Nacht in meinen Träumen dorthin zurückkehrte, war mir der Gedanke daran tagsüber unerträglich. Mit dem Mord an Slim hätte das Konto eigentlich ausgeglichen sein sollen, aber auf lange Sicht änderte sich dadurch gar nichts. Nicht, dass ich meine Tat bereute, aber Meister Yehudi war trotzdem tot, und kein Bingo auf der ganzen Welt konnte ihn mir ersetzen. Ich stolzierte durch Chicago wie ein großer Macker, der es zu was gebracht hat, doch hinter dieser Fassade war ich ein Niemand. Ohne den Meister war ich nichts, ohne ihn hatte ich kein Ziel.
    Einmal hatte ich eine Chance zum Aussteigen, bevor es zu spät war, eine einzige Gelegenheit, den Schaden zu begrenzen und abzuhauen, aber ich war so mit Blindheit geschlagen, dass ich einfach nicht zugriff, als mir das Angebot in den Schoß fiel. Das war im Oktober 1936, und inzwischen saß ich auf einem so hohen Ross, dass ich glaubte, nichts könne mich dort mehr runterholen. Ich hatte mich eines Nachmittags aus der Reinigung verdrückt, um ein paar persönliche Dinge zu erledigen: Rasieren und Haareschneiden in Brower’s Barbershop, Mittagessen bei Lemmele’s in der Wabash Avenue, danach auf eine schnelle Nummer mit einer Tänzerin namens Dixie Sinclair zum Royal Park Hotel. Wir waren für halb drei in Suite 409 verabredet, und mein Kleiner klopfte mir schon erwartungsvoll in der Hose. Aber sechs, sieben Meter vor der Eingangstür von Lemmele’s, grade als ich um die Ecke bog und reingehen wollte, sah ich auf und

Weitere Kostenlose Bücher