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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Monaten mit dem Meister, als ich gedacht hatte. Eine Woche vor seinem Tod hatte er ihr von unterwegs in einem langen Brief alle Einzelheiten mitgeteilt: die Kopfschmerzen, das Ende von Walt dem Wunderknaben, unser Vorhaben, nach Hollywood zu gehen und einen Filmstar aus mir zu machen.
    «Ich kapier das nicht», sagte ich. «Wenn Sie und der Meister Schluss gemacht hatten, was musste er Ihnen dann so einen Brief schreiben?»
    «Wir hatten nicht Schluss gemacht. Wir haben bloß nicht geheiratet, das ist alles.»
    «Kapier ich trotzdem nicht.»
    «Er war todgeweiht, Walt. Das weißt du doch. Das musst du auch damals schon gewusst haben. Er hat von dem Krebs erfahren, kurz nachdem du entführt worden bist. Schöne Schweinerei, was? Es war die Hölle. Und dann noch dieses Pech mit dir. Da versuchen wir in Wichita das Geld zusammenzukratzen, um dich freizukaufen, und plötzlich muss er eine tödliche Krankheit kriegen. Damit hat das ganze Gerede von unserer Hochzeit angefangen. Ich war entschlossen, ihn zu heiraten. Es war mir egal, wie lange er noch zu leben hatte, ich wollte nur seine Frau sein. Aber er wollte nichts davon wissen. ‹Genauso gut›, sagte er, ‹könntest du eine Leiche heiraten. Denk an die Zukunft, Marion› – das muss er tausendmal zu mir gesagt haben –, ‹denk an die Zukunft, Marion. Dieser Cox ist doch nicht schlecht. Von ihm bekommen wir das Geld, um Walt rauszuholen, und du hast für den Rest deiner Tage ausgesorgt. Das ist ein tadelloses Geschäft, Schwester, und es wäre töricht, sich das entgehen zu lassen.›»
    «Gottverflucht. Er hat Sie also wirklich geliebt? Ich meine, verdammte Scheiße, er hat Sie wirklich geliebt.»
    «Er hat uns beide geliebt, Walt. Nach dem, was Äsop und Mutter Sioux zugestoßen ist, waren wir beide sein Ein und Alles.»
    Ich hatte nicht vor, ihr zu erzählen, wie er gestorben war. Ich wollte ihr die blutigen Einzelheiten ersparen, und bis nach den Drinks gelang es mir auch, sie hinzuhalten – aber sie ließ nicht locker, sie wollte unbedingt wissen, was sich auf dem letzten Teil unserer Reise und dann in Kalifornien abgespielt hatte. Warum ich nicht zum Film gegangen sei. Wie lange er noch gelebt habe. Warum ich sie so ansehen würde. Ich erzählte ihr, er sei eines Nachts sanft im Schlaf verschieden, aber sie kannte mich zu gut, um mir das abzukaufen. Sie hatte mich nach ungefähr vier Sekunden durchschaut und wusste, dass ich ihr was verheimlichte, und da hatte es keinen Zweck mehr, ihr was vorzumachen. Also erzählte ich es ihr. Ich erzählte ihr die ganze hässliche Geschichte, und Schritt für Schritt kam der ganze Horror wieder zurück. Ich ließ nichts aus. Mrs. Witherspoon hatte ein Recht darauf, es zu erfahren, und als ich erst davon angefangen hatte, konnte ich gar nicht mehr aufhören. Sie weinte, aber ich redete einfach weiter, und während die Worte aus mir hervorsprudelten, sah ich das Make-up und den Puder auf ihren Wangen ineinanderlaufen.
    Als ich zum Ende kam, knöpfte ich die Jacke auf und zog die Pistole aus dem Schulterhalfter. Ich hielt sie einige Augenblicke hoch und legte sie dann zwischen uns auf den Tisch. «Das ist sie», sagte ich. «Die Pistole des Meisters. Bloß damit Sie wissen, wie sie aussieht.»
    «Armer Walt», sagte sie.
    «Allerdings. Es ist das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.»
    Mrs. Witherspoon starrte die kleine Waffe mit dem Eichengriff zehn, zwölf Sekunden lang an. Dann streckte sie ganz zögernd die Hand aus und legte sie darauf. Ich dachte, sie wollte die Pistole hochnehmen, aber das tat sie nicht. Sie saß nur da und betrachtete ihre Finger, die sich um die Waffe schlossen, als könnte sie, indem sie berührte, was der Meister berührt hatte, ihn selbst noch einmal berühren.
    «Du hast das Einzige getan, was dir möglich war», sagte sie.
    «Ich habe ihn im Stich gelassen, das hab ich getan. Er hat mich gebeten, für ihn abzudrücken, und ich hab es nicht über mich gebracht. Sein letzter Wunsch – und ich hab mich von ihm abgewandt und es ihn selbst tun lassen.»
    «Vergiss die guten Zeiten nicht, wie er es dir gesagt hat.»
    «Das geht nicht. Bevor ich zu den guten Zeiten komme, muss ich an die Situation denken, in der er mir gesagt hat, dass ich sie nicht vergessen soll. Ich komme einfach nicht über diesen letzten Tag hinweg. Ich komme einfach nicht an das ran, was vorher war.»
    «Vergiss die Pistole, Walt. Schmeiß das verdammte Ding weg und mach endlich reinen Tisch.»
    «Ich kann nicht.

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