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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Rand des Maisfeldes entlang – und ich weiß noch, es war ein herrlicher Morgen, Rotkehlchen und Hüttensänger flogen umher, ich hatte ein seltsames, prickelndes Gefühl von Lebendigkeit, die Sonne schien warm und wohltuend auf mich nieder. Nach einiger Zeit gelangten wir auf ein unbestelltes Stück Erde, eine freie Stelle zwischen zwei Feldern; der Meister drehte sich zu mir um und sagte: «Hier werden wir das Loch anlegen. Möchtest du graben, oder willst du das mir überlassen?»
    Ich gab mir die größte Mühe, aber meine Arme waren dem nicht gewachsen. Ich war zu klein, um eine Schaufel von diesem Gewicht zu handhaben, und als der Meister sah, dass ich sie nicht mal ansatzweise in den Boden bekam, geschweige denn ausreichend tief hineinstoßen konnte, meinte er, ich solle mich setzen und ausruhen, er werde die Sache selbst in die Hand nehmen. In den nächsten zwei Stunden sah ich ihm zu, wie er dieses Stück Land in ein riesiges Loch verwandelte, eine Grube, so weit und tief wie ein Riesengrab. Er arbeitete so schnell, dass es aussah, als würde ihn die Erde verschlingen, und bald hatte er sich so tief hineingewühlt, dass ich seinen Kopf nicht mehr sehen konnte. Ich hörte nur noch sein Ächzen, das jeden Stoß begleitete, wie das Schnaufen einer Lokomotive, und dann kam jedes Mal ein Schwall Erde über den Rand geflogen, hing eine Sekunde in der Luft und fiel schließlich auf den Haufen, der immer höher um das Loch wuchs. Er legte sich ins Zeug wie zehn Mann auf einmal, wie ein ganzes Heer von Arbeitern, die einen Tunnel nach Australien graben wollen, und als er schließlich aufhörte und sich aus der Grube stemmte, war er so verdreckt und verschwitzt, dass er aussah wie ein Stück Kohle, wie ein als Neger geschminkter Vaudeville-Clown, der vor Erschöpfung tot umzufallen drohte. Ich hatte noch keinen Menschen so keuchen, so vollkommen außer Atem gesehen, und als er sich auf die Erde warf und die nächsten zehn Minuten ohne einen Mucks dort liegen blieb, stand für mich fest, dass ihm gleich das Herz stehenbleiben würde.
    Das Entsetzen verschlug mir die Sprache. Ich ließ den Brustkorb des Meisters nicht aus den Augen, spähte nach Anzeichen für einen Kollaps und erlebte ein Wechselbad von Angst und Freude, als ich eine leichte Bewegung bemerkte, ein Auf und Ab, ein Heben und Senken vor der langen blauen Linie des Horizonts. Während ich weiter dort Wache hielt, verfinsterte sich unheilvoll der Himmel; eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Ich hielt sie für den Todesengel, aber dann wurde es langsam wieder heller, und Meister Yehudis Lungen arbeiteten immer noch; kurze Zeit später richtete er sich lächelnd auf und wischte sich eifrig den Dreck aus dem Gesicht.
    «Nun», fragte er, «was sagst du zu unserem Loch?»
    «Große Klasse», sagte ich. «Das tiefste und schönste Loch aller Zeiten.»
    «Freut mich, dass es dir gefällt. Denn während der nächsten vierundzwanzig Stunden werdet ihr beide, du und das Loch, sehr engen Kontakt miteinander haben.»
    «Soll mir recht sein. Sieht doch ziemlich interessant aus. Solange es nicht regnet, könnt’s ganz lustig sein, ’ne Weile da drin zu sitzen.»
    «Um den Regen mach dir mal keine Sorgen, Walt.»
    «Sind Sie ’n Wetterfrosch oder was? Vielleicht haben Sie’s ja noch nicht bemerkt, aber die Lage ändert sich hier praktisch alle fünfzehn Minuten. Das Wetter hier in Kansas ist doch völlig unberechenbar.»
    «Wohl wahr. Auf den Himmel kann man sich in dieser Gegend nicht verlassen. Aber ich sage auch nicht, dass es trocken bleiben wird. Nur, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, falls es doch regnen sollte.»
    «Klar, geben Sie mir ’ne Decke oder so’n Zeltdings – eine Plane. Vorbeugen ist besser. Kann nichts schaden, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.»
    «Meinst du, ich setze dich aus Jux und Dollerei dort hinein? Ein Loch zum Atmen werde ich dir natürlich lassen, du bekommst einen langen Schlauch in den Mund, durch den du Luft holen kannst, aber im Übrigen wird es ziemlich feucht und ungemütlich. Du wirst dich beengt und unbehaglich fühlen wie ein Wurm, falls du mir diesen Ausdruck gestattest. Und du wirst diese Erfahrung bestimmt dein Leben lang nicht vergessen.»
    «Ich weiß ja, dass ich begriffsstutzig bin, aber wenn Sie nicht aufhören, in Rätseln zu reden, werden wir noch den ganzen Tag hier sitzen, bis ich kapiert habe, worum es geht.»
    «Ich werde dich begraben, Kleiner.»
    «Hä?»
    «Ich werde dich in

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