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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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die Tatsache der Freundschaft selbst, auf das Band, das zwischen uns entstanden ist. Äsop wurde mein Gefährte, mein Anker in einem Meer der Grobheit, und ohne seinen Ansporn hätte ich nie den Mut gefunden, den Nöten standzuhalten, die mich in den nächsten zwölf bis vierzehn Monaten bedrängten. Im Dunkel meines Krankenzimmers hatte der Meister geweint, doch als ich wieder gesund war, verwandelte er sich in einen Sklaventreiber und setzte mich Qualen aus, die kein Menschenwesen zu erdulden haben sollte. Wenn ich heute an diese Tage zurückdenke, wundert es mich, dass ich nicht gestorben bin, dass ich tatsächlich noch da bin und davon erzählen kann.
    Nachdem wir die Saat in die Erde gebracht hatten, begann die eigentliche Arbeit. Es war ein schöner Morgen Ende Mai, kurz nach meinem zehnten Geburtstag. Nach dem Frühstück nahm mich der Meister beiseite und flüsterte mir ins Ohr: «Mach dich bereit, Kleiner. Jetzt fängt der Spaß an.»
    «Sie meinen, bis jetzt hätten wir noch keinen gehabt?», sagte ich. «Korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch sehe; aber dieser Kurs in Landwirtschaft war für mich so ziemlich der größte Spaß, seitdem ich das letzte Mal Halma gespielt habe.»
    «Das Feld bestellen ist eine Sache, eine stumpfsinnige, aber notwendige Arbeit. Nun aber werden wir unsere Gedanken dem Himmel zuwenden.»
    «Sie meinen, wie die Vögel, von denen Sie erzählt haben?»
    «Ganz recht, Walt, genau wie die Vögel.»
    «Soll das heißen, Sie meinen es noch immer ernst mit Ihrem Plan?»
    «Todernst. Wir kommen jetzt zur dreizehnten Stufe. Wenn du tust, was ich dir sage, wirst du Weihnachten in einem Jahr fliegen können.»
    «Dreizehnte Stufe? Sie meinen, ich hab schon zwölf davon hinter mir?»
    «Richtig, zwölf. Und du hast alle glänzend bestanden.»
    «Ich krieg die Motten. Hab ich gar nichts von gemerkt. Davon haben Sie mir keinen Piep gesagt, Chef.»
    «Ich sage dir nur, was du wissen musst. Um den Rest kümmere ich mich selbst.»
    «Zwölf Stufen, ja? Und wie viele kommen noch?»
    «Insgesamt sind es dreiunddreißig.»
    «Wenn ich die nächsten zwölf genauso schnell schaffe wie die ersten, bin ich ja bald auf der Zielgeraden.»
    «Das wirst du nicht, ganz bestimmt nicht. Du glaubst, du hättest bis jetzt schon viel gelitten, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was noch vor dir liegt.»
    «Die Vögel leiden nicht. Sie breiten einfach die Flügel aus und fliegen los. Wenn ich, wie Sie sagen, die Gabe habe, versteh ich nicht, was da so schwierig sein soll.»
    «Du bist aber kein Vogel, mein kleiner Einfaltspinsel – du bist ein Mensch. Um dich vom Boden zu erheben, müssen wir Himmel und Erde in Bewegung setzen. Wir müssen das ganze verdammte Universum auf den Kopf stellen.»
    Wieder mal verstand ich nicht ein Zehntel von dem, was der Meister sagte, aber als er mich einen Menschen nannte, nickte ich, denn in diesem Wort schien mir eine neue Wertschätzung mitzuschwingen, ein Eingeständnis, wie wichtig ich für ihn geworden war. Er legte mir freundlich die Hand auf die Schulter und führte mich in den Maimorgen hinaus. In diesem Augenblick empfand ich nichts als Vertrauen zu ihm, und trotz seiner harten, einwärts gekehrten Miene fiel mir nicht ein, dass er dieses Vertrauen missbrauchen könnte. So dürfte sich Isaak gefühlt haben, als Abraham ihn auf diesen Berg geführt hat, Genesis, Kapitel zweiundzwanzig. Wenn dir ein Mann sagt, er sei dein Vater, dann vernachlässigst du wider besseres Wissen die Deckung und machst dich zum Deppen. Du kommst gar nicht auf die Idee, dass er sich mit Gott, dem Herrn der Heerscharen, gegen dich verschworen hat. So schnell arbeitet so ein Jungenhirn nicht; es ist nicht raffiniert genug, solche Machenschaften zu durchschauen. Du weißt nur, dass dir der große Mann die Hand auf die Schulter gelegt hat und dich vorwärtsschiebt. Er sagt: Komm mit, drum drehst du dich in die angezeigte Richtung und folgst ihm.
    Wir gingen an der Scheune vorbei zum Geräteschuppen, einer baufälligen Hütte mit durchhängendem Dach und Wänden aus verwitterten, ungestrichenen Brettern. Meister Yehudi öffnete die Tür, blieb stehen und musterte schweigend und ziemlich lange das dunkle Gewirr metallener Gegenstände. Schließlich griff er hinein und zog eine Schaufel hervor, ein schweres rostiges Ding von fünfzehn bis zwanzig Pfund Gewicht. Er gab mir die Schaufel in die Hand, und als wir dann weitergingen, war ich stolz, sie für ihn tragen zu dürfen. Erst gingen wir am

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