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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dieses Loch legen und mit Erde bedecken. Ich werde dich lebendig begraben.»
    «Und Sie erwarten, dass ich da mitmache?»
    «Du hast keine Wahl. Entweder du gehst aus eigenem Entschluss da rein, oder ich erwürge dich mit bloßen Händen. Wenn du es tust, winkt dir ein langes glückliches Leben; wenn nicht, bist du in dreißig Sekunden tot.»
    Also ließ ich mich lebendig begraben – eine Erfahrung, die ich keinem wünsche. Schon die Vorstellung mag unangenehm sein, aber der eigentliche Vorgang ist noch viel schlimmer, und wenn man erst mal, wie ich an diesem Tag, einige Zeit im Bauch der Erde verbracht hat, sieht man die Welt für immer mit anderen Augen an. Sie kommt einem unaussprechlich viel schöner vor, doch ist diese Schönheit in ein so flüchtiges, so unwirkliches Licht getaucht, dass sie nie feste Gestalt annimmt, und obwohl man sie sehen und anfassen kann wie immer, ist man sich mit einem Teil seiner selbst bewusst, dass sie bloß ein Trugbild ist. Die Erde auf sich zu fühlen, ihr Gewicht und ihre Kälte, die Panik todesähnlicher Unbeweglichkeit: das geht ja noch. Der wahre Horror beginnt erst später, wenn man, nachdem man ausgegraben wurde, aufstehen und wieder umhergehen kann. Von da an ist alles, was man oben erlebt, mit diesen unter der Erde verbrachten Stunden verbunden. Ein Saatkorn des Wahnsinns ist dir in den Kopf gepflanzt worden; den Kampf ums Überleben magst du gewonnen haben, aber fast alles andere hast du verloren. Der Tod lebt in dir, er zerfrisst deine Unschuld und deine Hoffnungen, und am Ende bleibt dir nichts als die Erde, die kompakte Masse der Erde, die immerwährende Macht und der Triumph der Erde.
    Das war der Beginn meiner Einweihung. In den nächsten Wochen und Monaten erlebte ich noch viel mehr dergleichen, eine wahre Lawine von Martern. Jede Prüfung war schrecklicher als die vorige, und dass ich nicht in die Knie gegangen bin, lag nur an meiner schier reptilienhaften Sturheit, einer hirnlosen Passivität, die irgendwo im tiefsten Innern meiner Seele schlummerte. Mit Willen, Entschlossenheit oder Mut hatte das nichts zu tun. Über solche Eigenschaften verfügte ich nicht, und je weiter ich getrieben wurde, desto weniger Stolz empfand ich über meine Leistungen. Ich wurde mit einem Ochsenziemer ausgepeitscht; ich wurde von einem galoppierenden Pferd gestoßen; ich wurde zwei Tage lang ohne Essen und Trinken auf dem Dach der Scheune festgebunden; ich bekam die Haut mit Honig eingeschmiert und musste dann, von tausend Fliegen und Wespen umschwärmt, nackt in der heißen Augustsonne stehen; ich saß eine ganze Nacht lang in einem Feuerkreis, bis mein Körper über und über mit Brandblasen bedeckt war; ich wurde mehrmals für sechs Stunden in ein Fass mit Essig gesteckt; ich wurde vom Blitz getroffen; ich trank Kuhpisse und aß Pferdescheiße; ich nahm ein Messer und schnitt mir das letzte Glied meines linken kleinen Fingers ab; ich hing drei Tage und drei Nächte lang in einem Kokon aus Stricken an einem Balken auf dem Dachboden. Das alles habe ich getan, weil Meister Yehudi es mir aufgetragen hat; Liebe konnte ich dabei freilich nicht für ihn empfinden, aber auch keinen Hass, keinen Unmut darüber, dass er mich solchen Torturen unterwarf. Er brauchte mir nicht mehr zu drohen. Ich gehorchte blind seinen Anordnungen, ohne zu fragen, welche Ziele er damit verfolgte. Er sagte: Spring, und ich sprang. Er sagte: Halt die Luft an, und ich hielt die Luft an. Der Mann hatte versprochen, mir das Fliegen beizubringen; ich glaubte ihm zwar nicht, ließ ihn aber gewähren, als ob ich ihm glaubte. Schließlich hatten wir eine Abmachung, diesen Pakt, den wir am ersten Abend in Saint Louis geschlossen hatten, und der stand mir immer vor Augen. Wenn er es bis zu meinem dreizehnten Geburtstag nicht geschafft hätte, würde ich ihm mit einem Beil den Schädel abhacken. Das ging gar nicht gegen ihn persönlich – es war bloß eine Sache der Gerechtigkeit. Wenn der Mistkerl mich enttäuschte, würde ich ihn umbringen, das wusste er genauso gut wie ich.
    Äsop und Mutter Sioux haben in dieser Zeit der Prüfungen zu mir gehalten, als sei ich ihr eigen Fleisch und Blut, ihr Herzallerliebster. Zwischen den einzelnen Stufen meiner Entwicklung gab es immer wieder Ruhepausen von ein paar Tagen oder Wochen, in denen Meister Yehudi spurlos von der Farm verschwand; derweil heilten meine Wunden, und ich erholte mich so weit, dass ich mich gegen die nächste grausame Attacke wappnen konnte. Wohin er in

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