Mr. Vertigo
diesen Pausen ging, wusste ich nicht, und froh, wie ich war, ihn nicht sehen zu müssen, fragte ich auch die anderen nicht danach. Ich war nicht nur vor weiteren Prüfungen gefeit, sondern auch von der drückenden Gegenwart des Meisters befreit – seinem brütenden Schweigen, seinen gequälten Blicken, dem ungeheuren Raum, den er einnahm –, und das allein gab mir Sicherheit, gab mir die Chance, wieder mal durchzuatmen. Ohne ihn ging es in diesem Haus vergnüglicher zu, ohne ihn lebten wir drei in bemerkenswerter Harmonie. Die dicke Mutter Sioux und ihre zwei mageren Jungs. Es waren die Tage, in denen Äsop und ich richtige Freunde wurden, und so schlimm der größte Teil dieser Zeit für mich war, es sind auch ein paar schöne Erinnerungen damit verbunden, vielleicht die schönsten überhaupt. Äsop war ein großartiger Erzähler, und nichts gefiel mir besser, als der freundlichen Stimme zu lauschen, mit der er die phantastischsten Geschichten aus seinem Kopf abspulte. Er kannte Hunderte, und wenn ich ihn, völlig kaputt und zerschunden von der letzten Züchtigung, dazu aufforderte, saß er stundenlang neben meinem Bett und tischte mir eine nach der anderen auf. Jack der Riesentöter, Sindbad der Seefahrer, Odysseus der Wanderer, Billy the Kid, Lanzelot und König Artus, Paul Bunyan – von allen hat er mir erzählt. Aber die besten, die Geschichten, die er sich für Zeiten aufsparte, in denen ich besonders niedergeschlagen war, handelten von meinem Namensvetter Sir Walter Raleigh. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als er mir sagte, ich trüge einen berühmten Namen, den eines echten Abenteurers und Helden. Zum Beweis, dass er mir nichts vorflunkerte, holte Äsop ein dickes Buch mit einem Bild von Sir Walter aus dem Bücherregal. So ein vornehmes Gesicht hatte ich noch nie gesehen, und bald gewöhnte ich mir an, es täglich zehn bis fünfzehn Minuten zu betrachten. Ich mochte seinen Spitzbart, den messerscharfen Blick, den Ohrring mit der Perle am linken Ohrläppchen. Es war das Gesicht eines Piraten, eines echten verwegenen Ritters, und von diesem Tag an lebte Sir Walter in mir als mein zweites Ich, ein unsichtbarer Bruder, der durch dick und dünn zu mir hielt. Äsop erzählte vom Mantel und der Pfütze, von der Suche nach dem Eldorado, von der verlorenen Kolonie in Roanoke, von den dreizehn Jahren im Tower zu London, von den tapferen Worten, die Sir Walter vor seiner Enthauptung sprach. Er war der größte Dichter seiner Zeit; er war Gelehrter, Wissenschaftler und Freidenker; er war der meistgeliebte Mann bei den Frauen in ganz England. «Denk dir uns beide als eine Person», sagte Äsop, «das gibt dir ein ungefähres Bild davon, wie er war. Ein Mann mit meinem Verstand und deinem Mut und groß und stattlich obendrein – das ist Sir Walter Raleigh, der vollkommenste Mann, der je gelebt hat.»
Jeden Abend kam Mutter Sioux in mein Zimmer, deckte mich zu und saß dann so lange auf meinem Bett, bis ich eingeschlafen war. Nach und nach wurde ich abhängig von diesem Ritual, und so rasend schnell ich in jeder anderen Hinsicht erwachsen werden mochte, für sie war und blieb ich ein kleines Kind. Vor Meister Yehudi und Äsop verbiss ich mir jede Träne, doch vor Mutter Sioux machte ich bei zahllosen Gelegenheiten die Schleusen auf, um mich in ihren Armen auszuheulen wie ein todunglückliches Muttersöhnchen. Einmal, erinnere ich mich, wagte ich sogar das Thema Fliegen anzusprechen; ihre Antwort darauf war so unerwartet, so gelassen und zuversichtlich, dass sie den Aufruhr in meinem Innern für viele Wochen zum Schweigen brachte – nicht weil ich selbst dran glaubte, sondern weil sie dran glaubte. Sie war eben der Mensch, zu dem ich am meisten Vertrauen hatte.
«Er ist ein böser Mensch», sagte ich, auf den Meister anspielend. «Wenn er mit mir fertig ist, bin ich so bucklig und verkrüppelt wie Äsop.»
«Nein, Kindchen, da irrst du dich. Du wirst mit den Wolken am Himmel tanzen.»
«Mit einer Harfe in den Händen und Flügeln am Rücken.»
«Nein, ganz lebendig. Gesund und munter.»
«Das ist doch ein Bluff, Mutter Sioux, alles Lüge. Wenn er mir wirklich beibringen will, was er versprochen hat, warum tut er’s dann nicht endlich? Seit einem Jahr erleide ich jede Demütigung, die man sich nur denken kann. Er hat mich begraben, er hat mich verbrannt, er hat mich verstümmelt, und ich klebe noch immer am Boden fest.»
«Das sind die Stufen. Die müssen genommen werden. Aber das Schlimmste hast du
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