Mr. Vertigo
jetzt fast hinter dir.»
«Aha, dir hat er das also auch weisgemacht.»
«Mutter Sioux lässt sich von keinem was weismachen. Ich bin zu alt und zu fett, um einfach zu schlucken, was die Leute sagen. Falsche Reden sind wie Hühnerknochen. Sie bleiben mir im Hals stecken, und ich spucke sie aus.»
«Menschen können nicht fliegen. So einfach ist das. Menschen können nicht fliegen, weil Gott nicht will, dass sie es können.»
«Doch, es ist möglich.»
«In einer anderen Welt vielleicht. Aber nicht in der hier.»
«Ich hab es selbst gesehen. Als ich ein kleines Mädchen war. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Und was einmal möglich war, kann wieder möglich sein.»
«Das hast du nur geträumt. Du hast geglaubt, es zu sehen, aber nur im Schlaf.»
«Es war mein Vater, Walt. Mein Vater und mein Bruder. Ich hab sie wie Geister durch die Luft gleiten sehen. Es war kein Fliegen, wie du es dir vielleicht vorstellst. Nicht wie Vögel oder Motten, nicht mit Flügeln oder so. Aber sie waren in der Luft, und sie haben sich bewegt. Ganz langsam und seltsam. Es war eher wie beim Schwimmen. Sie haben sich wie Schwimmer durch die Luft geschoben, wie Geister, die über den Grund eines Sees spazieren.»
«Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?»
«Weil du mir früher nicht geglaubt hättest. Drum erzähle ich es dir jetzt. Weil die Zeit nahe ist. Wenn du auf den Meister hörst, kommt sie schneller, als du denkst.»
Als es zum zweiten Mal Frühling wurde, kam mir die Farmarbeit wie der reinste Urlaub vor; ich stürzte mich wie besessen hinein und war heilfroh, endlich wieder wie ein normaler Mensch leben zu können. Statt rumzutrödeln und über meine Wehwehchen zu schimpfen, rackerte ich mit Höchstgeschwindigkeit, zwang mich durchzuhalten und genoss die Strapazen in vollen Zügen. Ich war noch immer recht klein für mein Alter, aber älter und kräftiger geworden, und so aussichtslos es sein mochte, ich gab mir alle Mühe, mit Meister Yehudi mitzuhalten. Ich wollte ihm was beweisen, nehme ich an, wollte ihn dazu bringen, mich zu respektieren, Notiz von mir zu nehmen. Es war eine neue Form des Widerstands, und wenn der Meister sagte, ich solle langsamer machen, nicht so hastig, nur nicht übertreiben («Das ist keine olympische Disziplin», pflegte er zu sagen, «wir kämpfen hier nicht um Medaillen, Kleiner»), hatte ich jedes Mal das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben und allmählich die Herrschaft über meine Seele zurückzugewinnen.
Mein kleiner Finger war inzwischen abgeheilt. Was anfangs ein schwärender Schnitt durch Gewebe und Knochen gewesen war, hatte sich zu einem seltsamen, nagellosen Stumpf geglättet. Ich sah mir das immer wieder gerne an, strich mit dem Daumen über die Narbe und befühlte dieses Stück von mir, das nun für immer weg war. Ich muss das fünfzigmal, hundertmal am Tag getan haben, und jedes Mal sagte ich dabei «Saint Louis». Ich versuchte sehr, an meiner Vergangenheit festzuhalten, aber inzwischen waren mir die beiden Worte nur noch ein leerer Schall, eine rituelle Gedächtnisübung. Sie beschworen keine Bilder mehr herauf, führten mich nicht mehr dorthin zurück, wo ich mal gelebt hatte. Nach achtzehn Monaten in Cibola war Saint Louis für mich zu einer Geisterstadt geworden, von der täglich ein Stückchen mehr verschwand.
An einem Nachmittag in diesem Frühling herrschte ein Wetter wie im Hochsommer, es war ungeheuer heiß. Wir vier arbeiteten draußen auf den Feldern, und als der Meister, um es sich bequemer zu machen, das Hemd auszog, sah ich, dass er etwas um den Hals trug: einen Lederriemen, an dem, wie ein Juwel, ein Schmuckstück, ein durchsichtiges Kügelchen hing. Um es mir genauer anzusehen, trat ich – aus reiner Neugierde, ohne Hintergedanken – näher an ihn heran und erblickte in dem Anhänger, in einer klaren Flüssigkeit schwimmend, die fehlende Spitze meines kleinen Fingers. Der Meister muss meine Überraschung bemerkt haben, denn er sah beunruhigt auf seine Brust hinunter, als ob er dort vielleicht eine Spinne vermutete. Als er merkte, worum es ging, nahm er die Kugel und hielt sie mir zufrieden schmunzelnd hin. «Hübsches kleines Ding, was, Walt?», meinte er.
«Hübsch, na ich weiß nicht», sagte ich. «Kommt mir jedenfalls sehr bekannt vor.»
«Mit Recht. Es hat einmal dir gehört. In den ersten zehn Jahren deines Lebens ist es ein Teil von dir gewesen.»
«Ist es immer noch. Dass es von mir abgetrennt ist, heißt noch lange nicht,
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