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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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dass es jetzt nicht mehr mir gehört.»
    «Es ist in Formaldehyd eingelegt. Konserviert wie ein toter Fötus im Glas. Es gehört jetzt nicht mehr dir, sondern der Wissenschaft.»
    «Ja, und was hat es dann an Ihrem Hals zu schaffen? Warum stiften Sie’s nicht dem Wachsmuseum, wenn es der Wissenschaft gehört?»
    «Weil es für mich etwas ganz Besonderes ist, Witzbold. Ich trage es, um mich daran zu erinnern, dass ich in deiner Schuld stehe. Wie eine Henkersschlinge. Es ist die Last meines Gewissens, und die kann ich keinem Fremden in die Hand geben.»
    «Und was ist mit meinen Händen? Seien Sie fair, ich will das Ding zurückhaben. Wenn es schon jemand um den Hals tragen muss, dann ich.»
    «Ich will dir ein Geschäft vorschlagen. Wenn du es mir noch ein wenig lässt, betrachte ich es als dein Eigentum. Das ist ein Versprechen. Es steht ohnehin dein Name drauf, und sobald ich dich vom Boden habe, bekommst du es zurück.»
    «Für immer?»
    «Für immer. Natürlich für immer.»
    «Und wie lange soll dieses ‹ein wenig› noch dauern?»
    «Nicht lange. Du bist schon kurz davor.»
    «Das Einzige, wo ich kurz davor bin, ist die Hölle. Und wenn ich da erst mal bin, sind Sie auch an der Reihe. Stimmt’s, Meister?»
    «Du kapierst ziemlich schnell, Kleiner. Einigkeit macht stark. Wenn du für mich kämpfst und ich für dich – wer weiß, wie weit wir es da bringen können.»
    Das war das zweite Mal, dass ich was Ermutigendes über meine Fortschritte zu hören bekam. Zuerst von Mutter Sioux und jetzt vom Meister selbst. Ich will nicht bestreiten, dass ich mich gebauchpinselt fühlte, aber trotz allem Vertrauen, das sie in meine Fähigkeiten setzten, hatte ich selbst durchaus nicht das Gefühl, dem Erfolg auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Auf diesen schwülen Mainachmittag folgte eine ausgedehnte Hitzeperiode, der heißeste Sommer seit Menschengedenken. Der Boden glich einer Herdplatte, man musste glatt befürchten, dass einem die Sohlen unter den Schuhen wegbrutzelten. Wir beteten täglich beim Abendessen um Regen, aber drei Monate lang fiel nicht ein Tropfen vom Himmel. Die Luft war so trocken, so wahnsinnig ausgedörrt, dass man das Summen einer Pferdebremse auf fünfzig Meter Entfernung verfolgen konnte. Alles juckte, alles kratzte wie Disteln an Stacheldraht, und der Gestank aus dem Klohaus war so beißend, dass es einem die Nasenhaare versengte. Der Mais wurde welk und schlaff und ging ein; der Kopfsalat schoss zu grotesker Höhe auf, wie Mutationen standen die Türme im Garten. Mitte August konnte man einen Stein in den Brunnen werfen und bis sechs zählen, ehe man ihn ins Wasser platschen hörte. Keine grünen Bohnen, kein Mais, keine Fleischtomaten wie im Jahr zuvor. Wir lebten von Eiern, Brei und Räucherschinken; für den Sommer reichten unsere Vorräte, aber für die vor uns liegenden Monate verhieß ihr Schwinden nichts Gutes. «Schnallt eure Gürtel enger, Kinder», sagte der Meister beim Abendessen, «schnallt die Gürtel enger und kaut, bis ihr nichts mehr schmecken könnt. Wir müssen unsere Vorräte strecken, sonst steht uns ein langer hungriger Winter bevor.»
    Bei aller Not, die uns während dieser Dürre bedrängte, war ich glücklich, viel glücklicher, als man hätte meinen sollen. Ich hatte die schrecklichsten Stufen meiner Einweihung hinter mich gebracht, was jetzt noch vor mir lag, waren die Phasen geistiger Anstrengung, der Entscheidungskampf mit mir selbst. In Meister Yehudi sah ich kaum noch ein Hindernis. Er gab seine Anweisungen und verschwand gleich darauf aus meinen Gedanken; er führte mich so tief in mich hinein, dass ich selbst nicht mehr wusste, wer ich war. Die körperlichen Stufen waren eine einzige Schlacht gewesen, eine einzige Trotzhandlung gegen die schädelsprengende Grausamkeit des Meisters; nie hatte er mich dabei aus den Augen gelassen, sondern stets über mir gestanden, um meine Reaktionen zu beobachten und jedes winzige schmerzliche Zucken meiner Gesichtsmuskeln zu registrieren. Mit alldem war es jetzt vorbei. Er war ein freundlicher, großzügiger Berater geworden, der mich mit sanfter Verführerstimme dahin brachte, eine bizarre Aufgabe nach der anderen in Angriff zu nehmen. Er befahl mir, in die Scheune zu gehen und die Strohhalme im Pferdestall zu zählen. Er befahl mir, eine ganze Nacht auf einem Bein zu stehen und die folgende Nacht auf dem anderen Bein zu durchwachen. Er band mich in der Mittagssonne an einen Zaunpfosten und befahl mir,

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